Grappa 14 - Grappa und der Tod aus Venedig
mussten Komponisten ihren Werken ja geben. Und was lag da näher, sich etwas zu suchen, das in der Musikliteratur schon bekannt war?
Im Internet gab es schon etwas über Wiesengrundels Werk zu lesen, denn der Meister selbst hatte in einem Klassik-Magazin ein Interview dazu gegeben:
Mit dem Venezianischen Zyklus über eine verklärte Nacht für Flöte, Akkordeon und Tonband begann ich 1979 eine Reihe von imaginären Trios, die, dank Tonband, jeweils zwei Instrumente mit sich selbst in Beziehung setzen. Auf dem Band gespeichert sind manipulierte Flötenklänge und Akkordeongeräusche. Formal gliedert sich das Stück in drei Teile. Nicht nur deren Tempi, schnell-langsam-schnell, sondern auch ihre Gestik erinnern an die klassische Sonatenform, ohne indessen weiteren Bezug zu ihr zu nehmen.
Im Schlussteil kämpft die Flöte mit einer von ihr selbst in Bewegung gesetzten Endlosbandschleife, so wie der Zauberlehrling in Goethes Ballade mit dem entfesselten Besen. Dadurch entsteht ein Feedback zwischen den verschiedenen Ebenen, der Notation, der spieltechnisch-klanglichen Möglichkeit des Instrumentalisten und der zeitlich-klanglichen Vorgabe des Tapes. So wird bei und während jeder Aufführung das klangliche Gesamtbild der Komposition von diesem Vorgang abhängig sein, eine veränderte Gestalt annehmen und auch das fixierte Zuspiel einem Wandel in seiner klanglichen Auswirkung unterwerfen.
O je, ich verstand kein Wort und mich beschlich die Befürchtung, dass ich mir nach dem Konzert heute Abend eine ziemliche Dosis Händel und Bach als Gegengift würde spritzen müssen. Akkordeon gehörte für mich eher zum Volkstum – Seemannslieder oder Bergmannschor.
Drei Musiker und kein Komponist
Eine kostenlose Pressekarte bescherte mir einen Platz in Reihe 11 des Konzerthauses – also nah am Geschehen. Bierstadt fieberte dem Ereignis wohl nicht gerade entgegen – die Stuhlreihen waren nur spärlich besetzt.
Endlich betraten drei Männer die Bühne. Einer hatte sich ein Akkordeon umgehängt, der zweite hielt eine Querflöte in der Hand, der dritte ging auf einen Tisch zu, auf dem das Tonband stand. Das Publikum applaudierte.
Plötzlich trat noch ein Mann auf die Bühne. Ob das der Komponist war? Ich hatte im Internet kein Foto von ihm gefunden.
»Leider müssen wir Ihnen mitteilen«, sagte der Mann, »dass der Komponist des Venezianischen Zyklus über eine verklärte Nacht, Dr. Ben Wiesengrundel, wegen Krankheit verhindert ist. Die Leitung des heutigen Konzertabends übernimmt deshalb ...« Er nannte den Namen eines Dirigenten.
Wo war der Maestro? Ich glaubte nicht an eine Krankheit. Kein Künstler lässt sich die Welturaufführung seines Werkes entgehen.
Leider konnte ich jetzt den Saal nicht mehr verlassen, denn das Konzert hatte begonnen. Der Akkordeonspieler startete mit tiefen, dumpfen Tönen, die Flöte ging hell und hysterisch dazwischen und dann drückte der Mann auf die Taste des Tonbands: Ein rhythmisches Geräusch ertönte und ich brauchte eine Weile, um es zu identifizieren: der Lärm in einer Fabrik, eine Mischung aus Zischen und Hämmern.
Nach einer Weile hatten sich meine Ohren an die Töne gewöhnt und es klang wirklich nach einer Nacht, was sich da akustisch entfaltete.
Mittlerweile hatte die Flöte die Führung übernommen, das Fabrikgeräusch war übergegangen in ein atonales Klingen und das Akkordeon setzte nur noch wilde Akzente.
Mit einem Schlag war es still.
Das Publikum hielt den Atem an und ich tat es auch. Die Stille war sehr laut. Ganz leise, eher spürbar als hörbar, füllte Wasserplätschern den Konzertsaal, erst natürlich und verhalten, dann immer drängender, jetzt mischten sich wieder Flöte und Akkordeon ein, das Naturgeräusch wurde von den Instrumenten begleitet.
Ich erinnerte mich an das Gedicht. Ja, die Töne wurden heller, sanfter und es war, als ob eine Sonne aufginge, eine Wärme zog durch den Saal, die Ahnung von Verzeihen, Großmut und Glück.
Der Applaus war ehrlich und üppig. Wiesengrundel hatte ein außergewöhnliches Werk geschaffen. Auch wenn ich von zeitgenössischer Musik wenig Ahnung hatte – dies hier hatte mir gefallen.
Mit neuen Erkenntnissen über mich, meinen Geschmack und die Musik fuhr ich nach Hause.
Kati war auf dem Sofa eingeschlafen, der Fernsehton war etwas heruntergedreht. Es lief irgendein französischer Depri-Streifen in Schwarz-Weiß. Sah nach Série noir aus. Eine tränenüberströmte Frau stand auf einer Brücke, sprang hinunter auf die
Weitere Kostenlose Bücher