Grappa 16 - Rote Karte für Grappa
ein ernstes, junges Mädchen geworden. Sie will Musik studieren und hat sich gerade verliebt. Am ersten Weihnachtstag bringt sie ihren Freund mit.«
Ich dachte zurück an den Fall von damals: Das kleine Mädchen, von seinen Eltern an Männer ›vermietet‹, war so schmal und verängstigt gewesen.
»Beate hat mit euch das große Los gezogen«, sagte ich.
»Wir auch mit ihr«, lächelte er. »Unsere Söhne sind viel schwieriger. Die bringen mich regelmäßig auf die Palme ... oder auf den Weihnachtsbaum.«
»Na, dann frohes Fest«, meinte ich. »Wenn du nichts dagegen hast, feiere ich jetzt Überstunden ab. Der Tod des Mädchens ist mir ziemlich an die Nieren gegangen.«
»Sie war genauso alt, wie Beate jetzt ist. Ist es nicht merkwürdig, dass ein behütetes Mädchen, das in Reichtum lebt, in den Wald geht und sich umbringt?«
»Luxus hat eben keinen emotionalen Wert«, meinte ich. »Mit Geld kann man nicht kuscheln. So einfach ist das.«
Es war mühsam, sich durch die Straßen und Geschäfte zu quälen. Unfreundliche Menschen, genervte Verkäuferinnen, unmögliche Autofahrer. Zum Glück verfügte mein Supermarkt über eine ordentliche Feinkostabteilung.
Ich fuhr auf den Parkplatz, musste warten, bis ein Platz frei wurde, und konnte dann endlich meinen Wagen abstellen. Ein bisschen schräg, aber nicht verkehrsbehindernd.
Als ich den Schlüssel abzog, bemerkte ich einen Mann in grauem Parka und Seppelhut und ich ahnte, was gleich passieren würde. Jeder Kerl der Welt fühlt sich zum Fahrlehrer berufen. Bitte heute nicht, betete ich.
»Das müssen wir abba nochma üben, Frolleinchen!«, kam es prompt.
Ich zuckte zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und beschloss, dem Fest des Friedens wenigstens insofern Tribut zu zollen, indem ich stumm und mit neutralem Gesichtsausdruck an dem Mann vorbeiging.
»Ham Sie Ihren Führerschein bei Neckamann gewonnen?«, schleuderte er mir den superoriginellen Klassiker im Autofahrerkrieg zwischen Mann und Frau entgegen.
Jetzt stellte er sich mir auch noch in den Weg und ich kam nicht aus dem Spalt zwischen meinem und dem neben mir geparkten Fahrzeug heraus.
Ruhig bleiben, mahnte ich mich, bring ihn bitte nicht gleich um. Vielleicht ist er langzeitarbeitslos, krebskrank, impotent oder wird von seiner Frau geschlagen.
»Sie stellen jetzt sofort Ihren Wagen vernünftig hin!«, schrie der Mann.
Wut stieg in mir auf.
»Verpiss dich, Opa«, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich herum, zuerst sah ich Simon Harras, dann Adriano Eckermann. Die beiden fehlten mir noch.
»Hallo, Grappa«, grinste Harras. »Brauchst du Hilfe?«
»Nicht mehr«, antwortete ich erleichtert, denn der Seppel war bereits auf dem Rückzug. »Was macht ihr denn hier?«
»Einkaufen. Du hast mir den Supermarkt doch empfohlen. Wegen dem Büffelmozzarella, dem guten Schinken und der geilen Käseabteilung.«
»Und warum nimmst du den da mit?« Ich schaute zu Eckermann.
»Ich studiere das Parkverhalten mitteleuropäischer Frauen zur Weihnachtszeit«, meinte der Brasilianer.
»Armer, fremder Mann im Ausland«, erklärte Simon. »Ich kann ihn Heiligabend doch nicht in seiner öden Pension rumhängen lassen. Also kaufen wir ein und machen es uns gemütlich. Willst du nicht zum Singen zu uns kommen? Oder kannst du ein paar Werke auf der Blockflöte? Oder jodel uns doch Stille Nacht vor. Du kannst auch gerne für uns kochen.«
»Sonst noch Wünsche?«, muffelte ich.
»Mir fiele da noch einiges ein«, lachte Harras. »Also, was ist? Du bist herzlich willkommen – oder machst du in Familie?«
»Ich überleg's mir.«
»Du musst dich schon jetzt entscheiden, nicht wahr, Eckermann? Wäre doch eine schöne Gelegenheit, dass ihr beide euch endlich näher kommt.«
Eckermann lächelte. »Nur wenn sie ihren Wagen vernünftig parkt.«
»Kotzbrocken!«, sagte ich mit Inbrunst.
Das Klingeln meines Handys störte den Schlagabtausch. Beate Schlicht war dran.
»Hallo, Grappa. Kann ich dir gerade mal eine Musik vorspielen?«, fragte sie. »Du kennst dich doch in Klassik aus und kennst das Stück vielleicht.«
Ich bat die beiden Männer, einen Augenblick zu warten.
Die Tonqualität eines Handys ist ja nicht die beste, aber ich erkannte das Musikstück sofort: Es war der erste Satz aus Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen.
Die Klänge, verzerrt durch die schlechte Übertragung, jagten mir einen Schauer den Rücken hinunter.
»Schubert«, sagte ich. »Streichquartett Nr. 14 d-Moll.
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