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Grappa dreht durch

Grappa dreht durch

Titel: Grappa dreht durch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Wollenhaupt
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Rita hatte nur Mineralwasser und totgekochte H-Milch im Haus. Valpolicella, Vernaccia di San Gimignano oder den Rose aus der Provence?
    Bertha nahm mir die Entscheidung ab. Sie schlurfte in die Küche, ergriff den Rose und entkorkte ihn.
    »Zu warm!« stellte sie fest.
    »Leg ihn sieben Minuten ins Tiefkühlfach«, empfahl ich, »dann ist er soweit.«
    »Wein ins Tiefkühlfach? Weißt du, daß du gegen deine eigenen Regeln verstößt? Auf deinen Kochseminaren würdest du deine Schüler in den Kerker werfen!«
    »Dies ist ein Notfall.«
    Es klingelte. Rita hastete in die Küche und legte den Inhalt des Schließfaches auf den Tisch. Wir stürzten uns drauf.
    Da lagen Papiere, herausgerissene Seiten von regionalen und überregionalen Tageszeitungen, auf denen Kleinanzeigentexte markiert waren.
    »Wie langweilig«, meinte ich enttäuscht, »ich hatte mehr erwartet! Es ist ja noch nicht einmal ein Film dabei!«
    »Hier ist noch ein Brief!« sagte Rita. Langsam zog sie einen hellblauen Briefumschlag aus ihrer Tasche. Sie legte ihn flach auf die Hand und hielt sie mir hin. Ich merkte, daß es ihr nicht leichtfiel.
    »Wer hat ihn geschrieben?« fragte ich vorsichtig. »John.«
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»An wen?«
    »Ich weiß es nicht. An eine Frau. Aber er hat ihn nicht abgeschickt.«
    »Ach du Schreck!« entfuhr es Bertha. »Noch nicht lesen! Ich gieß uns erst mal einen ein.«
    Sie kam mit drei Gläsern und der beschlagenen Roséflasche zurück.
    »Leg bitte den Weißwein in den Kühlschrank«, schlug ich vor, »das wird ein langer Abend heute.«
    Rita kippte das erste Glas Wein hinunter wie Wasser.
    »Dann wollen wir mal!« sagte ich forsch. Das blaßblaue Blatt war von einer kleinen, engen Schrift bedeckt. Plötzlich überkamen mich merkwürdige Gefühle. Eine Mischung aus Scham und Angst. Ich vergriff mich an etwas, das nicht für mich bestimmt war.
    »Was ist?« wollte Bertha wissen.
    »Hast du ihn schon gelesen, Rita?« Meine Stimme war belegt. Ich trank einen Schluck. Und dann noch einen. Aber das Gefühl blieb.
    »Nur die ersten paar Sätze«, antwortete Rita, »dann mußte ich heulen.«
    Ich schaute auf die Anrede. Masul hatte keinen Vornamen genannt. Ich las:
    Meine Liebste!
    Gestern nachdem ich Dich verlassen hatte, habe ich mich in mein Arbeitszimmer gesetzt und das Klavierkonzert Nr. 5 von Ludwig van Beethoven aufgelegt. Ich weiß, daß Du Dich nicht für klassische Musik interessierst, doch ich will versuchen, Dir die Musik mit meinen Worten zu schildern, damit Du sie hören kannst. Vielleicht verstehst Du dann die Gefühle, die ich Dir entgegenbringe.
    Der zweite Satz dieses Konzertes ist das Innigste, was ich je in meinem Leben gehört habe. Die Streicher setzen das Thema wie eine Farbe ins Ohr, mit sanftem akkuratem Pinselstrich. Dann schwillt die Melodie langsam und gleichmäßig an, die Streicher spielen mit der Melodie, bis die Bläser sie ergreifen und dem Piano demütig zu Füßen legen.
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Das Klavier nimmt das Geschenk erfreut an, hebt die einzelnen Töne behutsam auf, betastet sie fast schüchtern, fängt an, mit ihnen zu spielen. Dann mischen sich die Violinen wieder ein, die Bläser umgarnen das Piano, um kurz darauf von den Violinen wieder zur Ordnung gerufen zu werden.
    In schwer geschlagenen Akkorden wehrt sich das Piano gegen die Bevormundung der Violinen, um sich dann des Themas vollends zu bemächtigen. Schließlich ergeben sich die Streicher. Auch deshalb, weil die Klarinetten und die anderen Holzbläser ihnen dazu raten. In schönster Harmonie begleiten sie die Melodie und ordnen sich dem Soloinstrument unter.
    Liebste! Vermutlich werde ich diesen Brief niemals abschicken. Wenn ich bei Dir bin, sind alle bösen Träume, die mich quälen, weggewischt. Doch wenn Du mich verlassen hast, bringen mich meine Vorstellungen und Phantasien an den Rand meiner Existenz. Ich balanciere auf einem Seil, unter dem der Abgrund gähnt. Manchmal stehe ich kurz davor, einen Schritt zur Seite zu tun.
    Ich habe keinen Mut mehr. Laß uns ein Ende machen. Für immer.
    Dein John.
    »Wer kann die Frau sein, für die der Brief bestimmt war?« fragte ich leise. Meine Stimme war belegt, und ich hatte einen Kloß im Hals. Ich blickte zu den beiden Frauen. Bertha liefen die Tränen übers Gesicht, Rita kauerte in Embryohaltung in einem Polstermöbel.
    »Mein Gott«, schluchzte Bertha, »welch ein schöner Liebesbrief. Und so traurig.«
    »Ziemlich sentimental das Ganze!« gab ich zu. Es sollte forsch klingen, doch ich bekam

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