Grappa lässt die Puppen tanzen - Wollenhaupt, G: Grappa lässt die Puppen tanzen
sitzen geblieben. Schon jetzt rechnet die Gesellschaft mit 12.000 Euro an Nachzahlungen.
Das Gebäude ist zudem schwer beschädigt. Nur ein Beispiel: Laut Quantas wurden die Kupferleitungen abmontiert und verkauft.
Der Einsatz verlief ohne Zwischenfälle. Dafür sorgten die Bierstädter Polizei und Maxi Singer, Chefin der Mission, die die Hausbesetzer beruhigte und sich anschließend um sie kümmerte.
Ich rief Maxi an, um mich zu vergewissern, dass ich nichts Falsches schrieb.
»Wo sind die Leute jetzt?«, fragte ich.
»Keine Ahnung.«
»Wie bitte?« Ich war verblüfft.
»Während Sie mit den Quantas- Leuten im Haus waren, kam ein klappriger Bus angefahren und hat die Frauen und Kinder eingeladen«, berichtete sie. »Die Männer haben sich in den umliegenden Straßen verteilt. Das ging alles sehr schnell.«
»Was bedeutet das?«
»Dass die Roma untergetaucht sind. Der Bus hatte ein bulgarisches Kennzeichen. Wahrscheinlich gehört er der Sippe. Diese Menschen kommen jetzt bei ihren Leuten in den anderen besetzten Häusern unter, meint Ivana.«
»Hat die Polizei denn nichts unternommen? Die Personalien festgestellt?«
»Die Beamten hatten die Anweisung, nur einzugreifen, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt. Die Roma sind Bürger der Europäischen Union«, erinnerte die Missionsfrau.
»Und die Kinder? Muss man die nicht da rausholen?«
»Wer will Müttern ihre Kinder wegnehmen? Sie vielleicht, Frau Grappa? Das geht nicht«, stellte Maxi fest. »Und eine Vernachlässigung muss sowieso erst mal nachgewiesen werden. Wie kann man das, wenn die Leute nicht mehr greifbar sind?«
Ich legte den Hörer auf und strich den letzten Satz meines Artikels.
Mir war klar, dass ich weit davon entfernt war, die Roma und ihren Bezug zur realen Bierstädter Welt zu verstehen. Und wenn ich als Journalistin schon hilflos war, obwohl ich alle denkbaren Möglichkeiten hatte, mich zu informieren – wie sollten die Nordstädter Bürger Toleranz entwickeln? Die Verfolgungsgeschichte der Roma und Sinti in den vergangenen Jahrhunderten ähnelte der der Juden. Roma und Sinti wurden in extremem Maße diskriminiert. Aber anders als die Juden wurden sie auch romantisiert.
Der Zigeunerbaron, die alberne Operette von Johann Strauss, wurde noch immer gern aufgeführt, Zigeunergeiger mit feuchten Augen traten im TV auf und über dem Sofa manch guter deutscher Wohn- oder Schlafstube prangte die vollbusige Zigeunerin in Öl.
Daneben hatte es immer wieder Vertreibung, Ermordung und Verfolgung gegeben. SS-Arzt Josef Mengele tötete viele Zigeuner durch medizinische Experimente – besonders Kinder, denen er die schrecklichsten Grausamkeiten zufügte.
Ich rief Friedemann Kleist an, der glücklicherweise an seinem Platz war.
»Habt ihr etwas erreicht?«, fragte ich. »Hat sich endlich jemand gemeldet, der die Tote kennt?«
»Nichts. Es ist wie verhext. Die berühmte Mauer des Schweigens. Wir haben die Hilfe der bulgarischen Kollegen angefordert.«
»Meinst du, das hilft? Die bulgarische Polizei ist für die Roma ein absolutes Feindbild.«
»Wir werden sehen. Es ist ja nur eine Möglichkeit. Außerdem suchen wir den Mann, dessen Name im Tattoo des Opfers genannt wird. Und die Kollegen überprüfen die Mieter, die zuletzt in den Häusern in der Juliusstraße gewohnt haben. Du siehst, Maria, wir tun alles nur Mögliche, um die Sache aufzuklären. Die junge Frau ist unter den schlimmsten Umständen gestorben, die man sich vorstellen kann.«
»Das Kind. Der Junge, der mich zur Leiche geführt hat. Maxi Singer stellt mir einen Kontakt zu der Lehrerin der Auffangklasse für die Romakinder her. Sie sollen sich das Foto anschauen, das Pöppelbaum am Montag geschossen hat. Hast du Lust und Zeit? Ich Wein, du Wasser?«
Er lachte. »Gute Idee. Ich muss hier raus. Bist du gewillt, einen Häppchenteller zu kreieren, oder soll ich einen Kiosk ausrauben?«
Wir verbrachten einen harmonischen Abend bei klassischer Musik. Die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms passten zum Thema. Der Komponist hatte Zigeunerweisen gesammelt und verarbeitet.
»Wusstest du eigentlich, dass es keine Zigeunerschrift und es deshalb keine Aufzeichnungen gibt?«, fragte ich.
»Ja, das wusste ich. Alles wird mündlich weitergegeben. Ist der Begriff Zigeuner eigentlich politisch korrekt?«
»Manche sagen Ja, manche Nein. Einige Romaverbände haben nichts gegen das Wort einzuwenden. Angeblich soll ›Zigeuner‹ von dem Begriff ›ziehender Gauner‹ abgeleitet sein. Offiziell
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