Grappa lässt die Puppen tanzen - Wollenhaupt, G: Grappa lässt die Puppen tanzen
sieht sehr verstört aus«, meinte sie nach einer Weile. »Doch leider kenne ich ihn nicht. Aber – wie gesagt – das heißt nichts. Die meisten Kinder leben im Verborgenen.«
»Darf ich das Foto Ihren Schülern zeigen?«
»Meinetwegen. In einer Viertelstunde beginnt der Unterricht.«
Die kleinen Roma saßen überraschend brav in den Bänken. Sie waren durchweg ordentlich gekleidet und sauber. Warum auch nicht? Was hatte ich erwartet? Eine Horde verlumpter, kreischender Kids?
Betty Fuchs-Pullmann grüßte: »Guten Tag, ihr lieben Schüler«, und bekam: »Guten Tag, Frau Betty«, als Antwort.
»Frau Grappa«, sagte sie und deutete auf mich. »Zeitung.«
Das Wort kannten die Kinder offensichtlich nicht. An der Wand des Klassenzimmers hing der Artikel einer Konkurrenzzeitung über die Auffangklasse. Der Text war mit vielen Fotos garniert.
»Frau Grappa – Zeitung«, wiederholte Fuchs-Pullmann und deutete auf den Artikel. Manche Kinder nickten, die hatten verstanden.
Die Lehrerin ließ das Foto von dem Jungen durch die Reihen gehen. Ich beobachtete die Kinder. Waren sie schon genauso verschlossen und misstrauisch wie die erwachsenen Roma?
Stumm wurde das Foto weitergereicht. Niemand schien den Jungen zu erkennen.
»Emilov?«, fragte die Lehrerin plötzlich.
Ein Kind mit Wuschelhaar und BVB-Sweatshirt starrte das Foto an.
»Junge? Name?«
Emilov blickte auf. »Ivo«, stammelte er. »Ivo!«
»Junge? Ivo?«
Emilov nickte.
»Wo ist Ivo?«
Emilov schüttelte den Kopf und schwieg.
Ivo und kein Nachname. Das war nicht viel. Frau Fuchs-Pullmann begleitete mich nach draußen.
»Ich würde gern über Sie und die Klasse einen Artikel schreiben.«
Sie war einverstanden. Dann hatte sie es plötzlich eilig, in die Klasse zurückzukommen.
»Meine Handtasche steht da«, erklärte sie, »und für die Kleinen gibt es nichts Schöneres, als sie auszuräumen.«
»Wie bitte?«
»Während der ersten Unterrichtsstunde musste ich mal auf die Toilette. Als ich zurückkam, hatten die Kinder meine Handtasche geplündert.«
»Und wie haben Sie reagiert?«
»Ich bin von Kind zu Kind gegangen und habe mir meine Sachen wieder zusammengesucht«, antwortete sie. »Seitdem versuche ich, den Kindern den Eigentumsbegriff zu vermitteln.«
»Hat wohl nicht geklappt?«, vermutete ich.
»Doch. Jetzt ist das ein Spiel. Ich lasse meine Tasche zurück, die Kinder schauen hinein und entdecken Bonbons oder Kaugummis, die ich extra für sie reingelegt habe. Die dürfen sie sich nehmen. Alles andere rühren sie nicht mehr an. Manchmal bekomme ich sogar was. Ein Bild oder eine kleine Bastelei. Dann haben wir alle unseren Spaß.«
Ivo, Kevin und ein besonderer Knoten
»Der Junge heißt Ivo«, teilte ich Pöppelbaum mit, als ich wieder in der Redaktion war.
»Heißen die auf dem Balkan nicht fast alle Ivo?«, fragte der Bluthund.
Das war wohl wahr. Ivo war ein häufiger Name, etwa so häufig wie Kevin bei uns.
»Ich schreibe einen Artikel über die Lehrerin«, kündigte ich an. »Könntest du hin und ein paar Fotos machen? Lehrerin vor der Klasse und ein paar Nahaufnahmen von ihr.«
»Warum hast du mich nicht gleich mitgenommen?«, maulte Pöppelbaum.
»Ich wollte erst mal die Lage peilen. Aber Frau Fuchs-Pullmann hat alles gut im Griff.«
Er machte sich auf den Weg und ich verzog mich in mein Büro. Dort wartete eine neue Pressemitteilung der Polizei auf mich.
Die Untersuchung des Mülls in den Häusern und auf dem Gelände hatte keinen Hinweis auf die Identität des Mordopfers geliefert, ein Mann namens Timocin war nicht gefunden worden. Eine Kleinigkeit war dann doch neu. Experten hatten die Fesselung untersucht und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen Knoten handelte, der in der Segelschifffahrt üblich war.
Der Webeleinstek, auch Mastwurf oder Kreuzlank genannt, kann gesteckt oder geworfen werden. Die geworfene Variante verwendet man zum Beispiel zum Festmachen des Bootes an einem Poller. Gesteckt wird der Webeleinstek dazu verwendet, eine Leine oder ein Seil an einem Gegenstand zu befestigen.
Die Gegenstände waren in diesem Fall die Handgelenke der ermordeten Frau.
Weiterhin werden dringend Zeugen gesucht, die Angaben zur Person der Toten oder zum Tathergang machen können. Hinweise an jede Polizeidienststelle. Auch anonymen Hinweisen wird nachgegangen. Vertraulichkeit wird zugesichert.
Ich wählte Kleists Büronummer, doch er war nicht zu erreichen: Termin beim Oberbürgermeister. Mehr bekam ich nicht
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