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Grappa und die Toten vom See

Grappa und die Toten vom See

Titel: Grappa und die Toten vom See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Wollenhaupt
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Blick war fiebrig und Schweiß stand ihm auf der gepflegten Stirn. Er gab mir den Umschlag.
    Ich griff hinein und zog zwei Schwarz-Weiß-Fotos heraus.
    Das erste zeigte zwei Männer in SS-Uniformen. Sie standen hinter zwei sitzenden Menschen in Zivil. Die schwarzen Hüte und die Schläfenlocken wiesen sie als Juden aus.
    »Der mit der Peitsche in der Hand und dem charmanten Lächeln – das ist er«, erklärte Max Motte. »Mein lieber Opa Laurenz Motte, der mir Märchen vorgelesen hat. Hier ist er aber noch der SS-Hauptsturmführer Theodor Steiger. Die Uniform bestätigt den Rang. Der Mann daneben ist ein SS-Scharführer und die beiden Männer auf den Stühlen sind ihre Opfer.«
    Ich drehte das Bild um. Dort stand: September 1943, Meina/Lago Maggiore, Vernehmung der Volksschädlinge.
    Ich sah mir das zweite Foto an. Wieder Theodor Steiger – diesmal in einem hellen Hemd. Die Dienstgradabzeichen, zwei Eichenzweige mit Eicheln und Blättern und einem Balken, waren am Oberarm aufgenäht. Neben Steiger weitere Männer – ebenfalls ohne Uniformjacken und Kappen. SS-Leute mal locker. Sie befanden sich im Garten des Hotel Victoria , lachten in die Kamera und prosteten dem Fotografen zu. Im Hintergrund erkannte ich das schmiedeeiserne Geländer und die Uferlinie des Lago Maggiore. September 1943, Meina, Fröhlicher Umtrunk nach getaner Arbeit – so war auf der Rückseite zu lesen.
    Was das wohl für eine Arbeit gewesen ist, fragte ich mich.
    Wayne fotografierte die Bilder und die Aufschriften.
    »Sie sind sich sicher, dass dieser Mann Ihr Großvater ist?«, vergewisserte ich mich.
    Motte trank das Glas leer. »Ja, hundertprozentig. Und hier habe ich noch etwas.« Er reichte mir ein einzelnes Blatt. »Dies ist der Teil eines weiteren Briefes von Samuel Cohn. Lesen Sie!«
    Ich rückte näher zum Licht.
    Während der gesamten Nacht und während des darauffolgenden Tages verschmolz das Dröhnen der Pritschenwagen der SS, die immer zwei von uns abholten, mit dem Lärm im Erdgeschoss. Die Soldaten schrien, sangen und betranken sich. Die Gäste des Hotels saßen an ihren Tischen wie jeden Tag. Als würde nichts geschehen. Doch nach und nach verließen die Leute den Saal und alles kam zur Ruhe: In der Herberge wurde es still, das Grammophon schwieg, das Radio verstummte, das Zimmer oben im vierten Stock leerte sich. Ein Küchenmädchen erzählte mir im Geheimen, dass bei Pontecchio, vor dem Straßenwärterhäuschen, weiße und aufgedunsene Körper angeschwemmt worden waren. Die Menschen seien erschossen oder mit Eisendraht erdrosselt worden.
    Gott hat uns für immer verlassen und keine Rettung für uns vorgesehen. Habe dennoch Gefallen, Herr unser Gott, an deinem Volk Israel und seinem Gebet. Bring den Gottesdienst zurück zu dem Heiligtum deines Hauses, und die Opfer Israels und ihr Gebet empfange in Liebe und Wohlgefallen, dass unsre Augen schauen mögen, wie du nach Zion zurückkehrst in Erbarmen. Denk an uns in unserer letzten Stunde.
    Dein Samuel
    Ich versuchte, gegen Tränen anzukämpfen, doch es gelang mir nicht.
    Wayne reichte mir ein Papiertaschentuch und nahm mir den Brief aus der Hand. Auch ihn ließ die Lektüre nicht unbeeindruckt. »Ich weiß nicht. Unter einem Massaker habe ich mir immer Leute vorgestellt, die hasserfüllt und in einer Art Blutrausch die anderen … eben massakrieren, also irgendwie kleinschnetzeln mit viel Blut und abgehackten Gliedmaßen. Wie Samuel Cohn das Geschehen beschreibt in dem Brief, das klingt ganz anders, viel zu ruhig: Die Täter holen die nächsten zwei rein, geben ihnen die Gelegenheit, mit ihren versteckten Vermögen die Freiheit zu kaufen – oder wenigstens ein Stück Hoffnung. Dann sacken sie die Kohle ein und erledigen sie. Ohne Emotionen. Ganz kühl und berechnet. Geschäftsmäßig. Wie am Fließband.«
    Ich musste würgen, konnte nur stammeln: »Du hast recht. Es war wie in den Vernichtungslagern. Massenmord in der Form bürokratischer Effizienz. Grauenhaft und unvorstellbar. Die menschliche Empfindung weigert sich, dies als reale Möglichkeit anzunehmen.«
    Pöppelbaum lief zur Bar. Er kehrte mit einem großen Glas zurück, in das was auch immer gefüllt worden war. Ich nahm einen kräftigen Schluck – das Zeug schmeckte nach Medizin. Hauptsache Alkohol, dachte ich und schüttelte mich.
    »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.
    Motte schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Ich soll mich morgen um punkt fünfzehn Uhr in

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