Grass, Guenter
weil sie das Recht gründlich
studiert hatte, nunmehr streng über das Rechte wachte und ihm, der sich nicht
an das Recht halten wollte, auf die Schliche gekommen war. Er wurde abgeführt
und dabei fotografiert: ein wenig verlegen und erstaunt schaut er auf Fotos drein.
Mit seiner Brille, die von erlesener Qualität zu sein scheint, ist er bemüht,
sich ein unschuldiges Ansehen zu geben - solche Brillen verkaufen sich immer
noch landesweit gut.
Da
aber geschah es, daß der steuerflüchtige Mann, den sein Volk mittlerweile König
Winkel nannte, nicht von der weisen Frau, die über das Recht wachte, vor
Gericht gestellt wurde, vielmehr sah sie sich urplötzlich in eine entlegene
Provinz versetzt, während König Winkel von einem milde gestimmten Richter mit
Strafen bedacht wurde, die einerseits zu verschmerzen waren, andererseits
nicht hinter Gittern, sondern zur Bewährung in Freiheit und während
Schönwetterperioden bei Sonnenschein abgesessen werden konnten.
Da
begann das Volk zu murren. Noch lauter murrte es, als er sich, seinem
Spitznamen Winkel getreu, in ein benachbart gebirgiges Land verflüchtigte, in
dessen Tälern bereits viele Steuersünder ansässig waren. Also befand er sich in
guter Gesellschaft. Damit es aber dem einstigen Herrscher über das Postwesen an
nichts fehle, wurde ihm aus der Pensionskasse des nunmehr herrscherlosen
Königreiches eine satte Million ausgezahlt: fürsorglich fürs Alter und, wie er
beteuerte, verdientermaßen.
Darauf
murrte das Volk, das im Murren geübt war, noch lauter. Auch nahm das Murren zu,
weil zur selben Zeit eine nicht mehr ganz junge Frau, die gegen kargen Lohn an
der Kasse einer Discounterfiliale saß, fristlos ihre Arbeit und deren Lohn
verlor. Sie wurde beschuldigt, in Summe einen Euro und dreißig Cent für sich
behalten, wie es hieß, unterschlagen zu haben; so etwas sei strafwürdig und zu
verurteilen. Auch das geschah von Rechts wegen.
Obgleich
sie dreißig Jahre lang ohne Fehl und Tadel an der Kasse gesessen hatte, durfte
sie sich nicht wie König Winkel bewähren. Keine Pension in Euro wurde ihr wohlwollend
nachgereicht. In Armut sollten fortan ihre Tage dahingehen: Strafe muß sein.
Weil
aber, wie es in längst vergangener Zeit, als es weder Euro noch Cent, sondern
Taler, Schillinge, Pfennige gab, üblich gewesen war, kein rettender Prinz,
keine gute Fee und gewiß keine mit Schläue gerüstete Anwaltskanzlei der armen
Frau hilfreich sein wollte - auch fielen, wie es in einem anderen Märchen
geschah, keine Sterntaler vom Himmel -, bedachte das Volk, oder zumindest der
murrend ärmere Teil des Volkes, den fernen König in seinem Winkel mit einem
Fluch, der ihm, wogegen kein Geld half, andauernden Juckreiz und ein
schmerzlich ächzendes Alter versprach.
Danach
entschlief, wie landesüblich, das Murren des Volkes. Die arbeitslose
Kassiererin jedoch durfte, auf Wunsch der nunmehr schweigenden Mehrheit, auf
einen Lotto- oder Totogewinn hoffen, damit sie zeitlebens in einer der vielen
Discounterfilialen reichlich Schweinekotelett und Putenbrüste, Bier im
Sechserpack, Schokoriegel und Gummibärchen für ihre Enkelkinder kaufen kann;
denn wo kein Recht ist, hilft nur noch wünschen.
Indessen
war, weil ihr keine Wahl blieb, Zeit vergangen. Grad noch erlebte Heinrich
Hirzel den Druck des achten Wörterbuchbandes, in dem, da er von R bis Schiefe
reicht, das soeben noch fraglich gewordene Recht eines der Stichworte ist.
Moritz Heyne hat es in über siebzig Spalten bearbeitet: Recht, rechtens,
Rechthaber, Rechtsanwalt, rechtlos, Rechtsordnung, das gebeugte Recht als
Rechtsbeugung und abgeleitet davon das legitimisiert waltende Unrecht und die
in zahllosen Reden beschworene Gerechtigkeit. Es fehlte nicht an Zitaten aus
den von Jacob Grimm erforschten »deutschen Rechtsalterthümern«.
Nach
Heinrichs Tod übernahm sein Sohn Georg, eigentlich zu jung für die zu
schulternde Last, den Verlag. Zu Hilfe kam ihm die Preußische Akademie der
Wissenschaften, der eine von ihr bezahlte Arbeitsstelle für das Wörterbuch beigeordnet
wurde.
Georg
Hirzel überlebte das Kaiserreich und dessen Ende. Er starb zur Zeit der
Inflation im Mai 1924, einem Jahr, in dem dennoch die Bände sprechen bis
Stechuhr und W bis Weg erschienen, worauf wiederum ein Heinrich - in der
Hirzelchronik der jüngere Heinrich genannt - in schwerer Zeit die Nachfolge
antrat; ab dreiunddreißig unter besonderer Aufsicht.
Was
in der kurzgefaßten Verlagsgeschichte, die zur Zeit der
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