Grass, Guenter
Wörterbuchs, dessen Lieferungen
von 1913 bis 1960 datiert sind, siebenunddreißig Spalten lang von wüst über
Wüste, den Wüstling und dessen »wüstlingsleben«, das bei Thomas Mann zu finden
ist, bis hin zur Wüstung, wie vormals gesagt wurde, wenn Krieg und Pest
weithin Verwüstung zur Folge hatten.
Wieder
und wieder. Ich kann den Blick nicht wenden. Auf das Jahr fünfundvierzig des
zwanzigsten Jahrhunderts zurückgeworfen, sehe ich den Berliner Tiergarten vom
Kahlschlag getroffen. Kaum noch sind Wege und Nebenwege zu finden, auf denen
ich vormals den Brüdern Grimm begegnet bin, sobald es gelang, sie mit
Lockrufen zu ködern oder auf bloßen Wunsch hin herbeizuzwingen.
Von
den Zelten her, deren einst belebte, weil Vergnügen und Genuß versprechende Gebäude
nunmehr in Trümmern liegen, gingen sie verschiedene Wege, der eine schlendernd,
auf Brücken, an Ufern verweilend, weil ohne Plan, der andere, den zielstrebiger
Wille trieb, kam zügig voran. Sie trafen einander am Venusbassin, dem jetzt die
Göttin fehlt: ein vermülltes Gewässer, in dem, als es Null schlug, gedunsene
Leichen schwammen, deren Uniformen jeweils den Feind kenntlich machten;
kürzlich noch war der Tiergarten umkämpft gewesen.
Die
Brüder trennten sich, um einander wiederum, oft gegenüber der Rousseauinsel, zu
begegnen. Und immer brachten sie Wörter mit, zu denen in Fülle Zitate abrufbar
waren; soviel Erlesenes sprach aus ihnen. Jacob ging lange mit den Buchstaben
A, B, C einher, führte Anmut und Armut, Bilsen und Bolzen, das verkleinernde chen
im Munde; Wilhelm begnügte sich mit dem D, kam von Dank auf Durst und hatte
entsprechende Redensarten parat: den Dreck am Stecken, die Kirche im Dorf, des
Herzens Dieb. Oder sie huldigten dem H mit inlautenden Vokalen: Haß, hell,
hier, Hohn, Huf.
Später,
als die Zeit nur noch wenig Frist versprach, ihnen Freunde und Feinde
wegstarben, übersprangen sie Buchstaben, wollten ans Ende des Alphabets,
endlich ans Ziel gelangen. Dabei nahmen sie Einsilber wie Zank, Zeit, Zorn
vorweg, verweilten lange bei der Zunge, jenem Körperteil, der, mit Zitaten
bewiesen, so redselig wie sprachmächtig ist. Und selbst als herbstlich
fallendes, dann winterlich raschelndes Laub ihnen einschlägige Stichwörter zum
L lieferte oder die politische Ohnmacht jener Jahre den Vorgriff aufs später
von Matthias Lexer bearbeitete O anbot, als plötzlich dem Brüderpaar der Laut
P hart von den Lippen sprang und sie sich paarig, gepaart, paarweis sahen, war
es beider Wunsch, dennoch weit weg in den Wortfeldern des Buchstaben W zu weilen,
worauf sie Wall, Weg, Witz, Wohl und Wut reihten und was alles und wen noch in
Frage stellten: Warum und wozu? Wo war wer wann? Wem wie und weshalb?
In
den vier Bänden zum W sind es die Spalten des letzten Bandes, die mir die
passenden Wortartikel zum verwüsteten Tiergarten liefern. Wer hätte ahnen
können, daß vom Band siebenundzwanzig, den Karl von Bahder 1922 druckfertig
lieferte, bis zum Band dreißig, der im Jahr 1960 die Arbeit am Grimmschen
Wörterbuch vorläufig abschloß, soviel Zeit vergehen würde?
Die
beiden folgenden Bände zum Z, denen das Stichwort Ziel zukam, lagen bereits
seit Mitte der fünfziger Jahre vor. Doch besonders dem von Wilb bis Ysop
reichenden, der im Verlauf eines halben Jahrhunderts von Ludwig Sütterlin bis
Hartmut Schmidt mehr als zwanzig Zuarbeiter verbrauchte, läßt sich die Mühsal
unablässiger Wörtersuche ablesen; aus etlichen Artikeln sprechen wechselnde
politische Herrschaft und gleichbleibende Zwänge, die während verstrichener
Zeit spürbar wurden.
Das
gilt auch für den Band dreißig. Dessen knappe Einleitung haben Theodor Frings
und Hans Neumann unterzeichnet. Vor dem nur angedeuteten Datum, dm Dezember
1960«, sind als Arbeitsstellen Berlin und Göttingen ausgewiesen. Der Leipziger
Professor Theodor Frings, der im Osten der geteilten Stadt tätig wurde und Hans
Neumann, der trotz eines jüdischen Großvaters die mörderischen zwölf Jahre
überlebt, sich nach Kriegsende gemeldet und gleich danach in der Grimmschen
Tretmühle nützlich gemacht hatte, sparen als gemeinsame Verfasser allen Zank
und Zwist aus, der die kommentierende Wortfindung während Jahrzehnten
behindert, zeitweilig gelähmt und mehrere Herausgeber in Zwietracht gebracht
hatte.
Nur
kurz werden kriegsbedingte Verzögerungen erwähnt. Zwar müssen sie nun der Not-
und Zwangslage des gespaltenen Landes gehorchen, betonen aber ihren Zusammenhalt:
»Nach 1945
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