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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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jeden Trick. Oft kommt
es mir vor, als habe sich in ihr der bessere Teil Preußens konserviert.
    Helen
Wolff, mit der ich nach Kurt Wolffs Tod jahrzehntelang Briefe wechselte, in
denen sich von Präsident zu Präsident Amerikas Brüche und Hoffnungen
spiegelten und wie nebenläufig mein familiäres Auf und Ab Spuren hinterließ,
starb 1994. In meinem Nachruf, den ich während der Leipziger Buchmesse hielt
und der eigentlich als Preisrede ihre verlegerischen Verdienste hätte loben
sollen, steht gegen Ende: »Heute hätte Helen Wolff hiersein wollen, in einer
Stadt, in der vor wenigen Jahren viele tausend Menschen den damals Regierenden
zugerufen haben: Wir sind das Volk! Wie gerne hätte ich ihr gedankt, der
Freundin, der Verlegerin. Sie fehlt mir.«
    Beide
kennen und kannten sich besser in meinen Hinterzimmern und mit den Regeln
meiner Versteckspiele aus, als ich wahrhaben möchte. Beide sind mir teuer und
ohne Vergleich, es sei denn ich stelle Maria Sommer und Helen Wolff neben
Salomon Hirzel, dessen »aufopfernde anhänglichkeit« Jacob Grimm lobte. Und als
ich kürzlich meinen leidenschaftlichen Drucker und in Entwicklung befindlichen
Verleger Gerhard Steidl ermunterte, dessen Briefwechsel mit den Grimmbrüdern
während Bahn- und Flugreisen zu lesen, glaubte ich seiner Mimik, die wenig
Innenleben preisgibt, ansehen zu können, daß er, bei aller Eile, die ihn
umtreibt, bereit zu sein scheint, sich dem Verleger des deutschen Wörterbuchs
zu nähern.
    Ich
sagte: »Hirzel beantwortete jeden Brief seiner Autoren postwendend und vergaß
nie, bitte und danke zu sagen.« Das aber war wohl zu viel verlangt; kaum da,
war Steidl wieder weg.
     
    Nach
Hildebrand und Weigand gelang es Salomon Hirzel, weitere Herausgeber unter
Vertrag zu nehmen: Lexer, Wunderlich und Heyne. Was an Jacobs Eigensinn
gescheitert war, die Verteilung der Wortstrecken an tüchtige Zuarbeiter, wurde
nun Praxis: Moritz Heyne übernahm die Buchstaben H, I, J. Er nannte das H einen
»reinen hauchlaut von den ältesten zeiten her«, wies auf das lachende Haha,
erschreckte Hu und erstaunte Aha hin, erhob das I zum »höchsten unter den
vokalen«, das kurz in »ich« und bald gedehnt »durch ie in viel« lautet. Das J
stufte er als Halbvokal ein, der lange brauchte, bis er in Schottels
Wörtersammlung der deutschen Hauptsprache, wie Heyne sagt, »vollkommen
eingebürgert« war, so bei Jahr, Joch und jemand. Fürs Ja benötigte er elf
Spalten.
    Als
des vierten Bandes zweite Abteilung oder zehnter Band meiner Ausgabe kamen die
drei Buchstaben 1877 auf den Buchmarkt. Im selben Jahr starb Salomon Hirzel,
dem Heyne in seinem kurzen Vorwort nachrief: »es ist schmerzlich zu empfinden,
dasz die treuesten äugen, die auf dem werke geruht und es mit warmem interesse
begleitet haben, sich schlieszen muszten, hart bevor dieser band vollendet
war.«
    Salomons
Sohn Heinrich übernahm den Verlag. Wahrend seiner Zeit als Verleger erschienen
als Wörterbücher die Bände fünf, sechs, sieben und acht. Für L und M war wiederum
Heyne zuständig. Für N bis Q zeichnete Lexer als Herausgeber, von R bis Schiefe
abermals Heyne.
    Nun
fällt es mir schwer, zwischen den Stichwörtern Lüge und Märchen, dem Nichts und
der Qual, der Rache und der Schande eine Auswahl zu treffen; schließlich
entscheide ich mich für das Märchen und versuche mit leisem Gemurmel und
namentlicher Beschwörung »Rapunzel, Rapunzel, laß mir dein Haar herunter« -
denn lebenslang habe ich mich zu ihr, wie immer anders sie hieß, hochgehangelt
- abermals Wilhelm in den Berliner Tiergarten zu locken; er ist schon immer gut
für Begegnungen außer der Zeit gewesen, darin verführbarer als Jacob.
    Diesmal
sitzen wir auf einer Bank nahe dem Lortzingdenkmal. Tauben gurren vorm Sockel.
Die Sonne wärmt unsere Erinnerungen. Nach unverbindlichem Geplauder über
Berliner Gesellschaft damals und heute und Rückblicken auf längst Verstorbene
- anhaltend schmerzt ihn das Zerwürfnis mit Bettine - kommen wir auf die
mittlerweile weltweit und zigmillionenfach verbreiteten Kinder- und Hausmärchen
und deren analytische Deutungen. Ich will wissen, warum er Rapunzels
Schwangerschaft in der zweiten Fassung des Märchens versteckt hält. Dann komme
ich auf Bruno Bettelheims Lotungen seelischer Abgründe, nach dessen Erkenntnis
der im Märchen bedeutsame Spindelstich zur sexuellen Reife geführt haben soll.
    Wilhelm
scheint zuzuhören, gibt sich halb mürrisch, halb erstaunt, lächelt nun, was ihm
zu Lebzeiten selten

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