Grass, Guenter
sogenannten
Familienhäusern. Sie sind in viele kleine Stuben abgetheilt, von welchen jede
einer Familie zum Erwerb, zum Schlafen und als Küche dient. In 400 Gemächern
wohnen 2 500 Menschen. Ich besuchte daselbst viele Familien und verschaffte
mir Einsicht in ihre Lebensumstände. In der Kellerstube Nummer 3 traf ich einen
Holzhacker mit einem kranken Bein. In der Stube 69 wohnt der Leineweber Berwig.
Als solcher fand er keine Arbeit und kam vor sechs Jahren als Tagelöhner nach
Berlin. Die Frau wird bald mit dem zehnten Kinde niederkommen. Sechs Kinder
leben noch...«
Was
danach kommt, drängt sich als Drangsal auf, ist von Stube zu Stube Mangel, für
den das Stichwort darben stehen könnte. Als Beleg dafür fängt bei Lukas der verlorene
Sohn »an zu darben«. Lessing meint wohl sich und seine Geldnöte, wenn »nach des
Schicksals ewgem schlusz ein jeder dichter darben musz«. Und Gryphius ist der
Ansicht, »ein schönes angesicht kann schmink und anstrich darben«.
Ganz
anders darben mußten die schlesischen Weber, als im Jahr 1844 ihr Aufstand vom
preußischen Militär niederkartätscht wurde. Weshalb Bettine wieder einmal
vergeblich ihren König mit Briefen eindeckte. Als mehr und mehr Weber aus den
Dörfern Schlesiens und des Vogtlandes, weil ohne Lohn und Brot, in Berlins
Vorstädte drängten, entrüsteten sich sogar liberale Geister, unter ihnen
Alexander von Humboldt, über einen Tuchfabrikanten namens Zwanziger, weil der
den Hungernden geraten hatte, wenn es sie hungere, Häcksel zu fressen. Das
durfte nicht gesagt sein, zumindest nicht so deutlich herausposaunt werden.
Als
knapp fünfzig Jahre später diese Hungerleider immer noch einen jungen
Schriftsteller namens Gerhart Hauptmann bedrängten, sein Schauspiel »Die
Weber« zu schreiben, in dessen dramatischem Ablauf der berüchtigte Tuchfabrikant
Dreißiger heißt, kam es zum Theaterskandal und zum Versuch, durch Verbot
weiterer Aufführungen den in ganz Deutschland nachhallenden Erfolg des Dramas
einzudämmen.
Das
Datum der Erstaufführung auf Berlins »Freier Bühne«, 1893, ist überliefert;
auch sollen, nach dem Bericht von Zeitzeugen, bei der Premiere Wilhelm
Liebknecht und August Bebel dabeigewesen sein; ich aber weiß nur ungefähr, daß
es zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein
muß, als mich der Leiter des IG-Metall Schulungszentrums Sprockhövel bat, mit
Betriebsräten, die dort über zäh erkämpfte Rechte betrieblicher Mitbestimmung
belehrt wurden, ergänzend einen Literaturkurs zum Thema »Dichtung und Arbeit«
abzuhalten.
Vorerst
stieß ich auf den Widerstand der festangestellten Dozenten. Bei einem
vorbereitenden Gespräch hieß es: »Sowas ist bürgerlicher Luxus. Literatur hält
unsere Kollegen nur von der notwendigen Aktion ab, den demnächst fälligen
Demonstrationen.«
Man
warf mir vor, mit intellektuellen Denkspielen den realpolitischen Druck, der
auf der Arbeiterklasse laste, wegdiskutieren zu wollen, »Dampf ablassen! Sowas
kennen wir.«
Aber
nach längerem Debattieren stieß mein Wunsch, mit einem Dutzend gerade
angereister Betriebsräte zu klären, ob vielleicht doch Bedarf nach Literatur
bestehe, auf keine weiteren Einwände. Und als ich den im Halbkreis sitzenden
Männern, deren Herkommen aus dem nahen Ruhrpott nicht zu überhören war,
vorschlug, mit ihnen Hauptmanns »Weber« zu lesen und dabei die historischen
Fakten des Weberaufstandes zu besprechen, also die andauernde »Relevanz« - ein
bevorzugtes Wort jener Jahre - von Klassenkonflikten zu beweisen und zudem die
bühnentaugliche Rede des Parchentfabrikanten Dreißiger mit gegenwärtigen
Leitartikeln der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« in Vergleich zu bringen,
glaubte ich wachsendes Interesse nicht nur bei den Betriebsräten, auch bei
einigen der jungen Dozenten zu bemerken. Drei Doppelstunden lang sollten meine
»Darbietungen bürgerlicher Dekadenz« geduldet werden.
Also
verteilte ich Reclam-Heftchen. Also las ich Szene nach Szene. Also deklamierte
ich Dreißigers Rede, so die Passage, in der er zu den murrenden Webern spricht:
»Die Geschäfte gehen hundsmiserabel, das wißt ihr ja selbst. Ich setze zu,
statt daß ich verdiene. Wenn ich trotzdem dafür sorge, daß meine Weber immer
Arbeit haben, so setze ich voraus, daß das anerkannt wird.«
Diesen
Ton kannten die Betriebsräte. Das Jammern der Fabrikanten ist von Dauer. Rufe
aus Dreißigers Mund wie »Der Fabrikant ist der Sündenbock!« waren ihnen als
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