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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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der als Flüchtling aus
Ostpreußen zu den vielen Vertriebenen zählte, die nach dem Krieg im Westen wenn
nicht heimisch, dann seßhaft geworden waren. Alles was er sagte kam breit
geplättet daher und atmete Stallwärme. Er hatte es mit der Endung kait, sagte:
Ludrigkait, Damlichkait, Erbärmlichkait. Wenn er hinterm Gartenzaun zwischen
Sonnenblumen stand, lüftete er seine Schirmmütze und begrüßte mich mit den
Worten: »Naa, Lieberchen, waas macht de Polletik?«
    So
mir vom Klang her vertraut angesprochen, gab ich Auskunft über die
Großwetterlage in Kalten Kriegszeiten und handelte den Kleinkram des
demokratischen Alltags ab.
    »Hat
sich waas midde demokratsche Jerechtigkait!« rief er und kratzte sich unter
seiner Schirmmütze.
    Doch
mit dieser unüberhörbaren Anrufung der Demokratie drängt sich nunmehr der
Buchstabe D ins Wortgeschehen. D wie Dach und Deckel. Er sagt Dank und hat
Durst. Mit ihm stehen die Artikel der die das stramm. Deren Aberwitz ist von
deutscher Eigenart und macht alle einheimischen und zugewanderten ABC-Schützen
zu Dummköpfen, weil ihnen nicht einleuchten will, warum es der Laut, die
Sprache, das Wort heißt.
     
    DAUMELING UND DAUMESDICK
     
    »Wie
teutsch für deutsch stand, so setzte Luther noch tunkel für dunkel und tichten
für dichten«, sagte Wilhelm, dem Jacob den Buchstaben D anvertraut hatte. Nach
gelehrter Einleitung, in der das Mittelalter durchbuchstabiert und von Freidank
bis Walther kein Dichter ausgelassen wurde, ging er vom demonstrativen da aus:
»er steht da, das buch liegt da.« Dann bekräftigte er das da durch Goethes
Ausruf: »pfui, speit ihr aus, die hure da!« und hatte vor, nach Wortstrecken
über Darm, Delle, Dienst, Dorn und Dunst mit dwatsch zu enden, was dumm,
dämlich bedeutet.
    Ob
ihm wohl, als er mit da begann, hätte dämmern können, daß der Kinderlaut dada
späterhin als Bürgerschreck und für einen Ismus tauglich sein würde? Ich habe
als Dreijähriger meine kleine Schwester, weil mir ihr Vorname Waltraut
unaussprechlich war, Daddau gerufen, nenne sie heute noch so.
    Warum
aber verzichtete er darauf, zwischen Diakon und Diamant das Wort Dialekt zu
rücken? Hatte er doch das plattdeutsche Märchen »Von dem Fischer un syner Fru«
als beispielhaft gelobt und war ihm doch, was zu vermuten ist, die hessische
Mundart bis ins späte Alter anhänglich, so im Gespräch - oder sage ich besser
Dialog? - mit Bettine, die oft, oder solange die beiden noch gut miteinander
waren, neben ihm auf dem Diwan hockte und mit zu Vögeln gefaltetem Papier um
sich warf.
    Sie
konnte die Worte nicht halten: schon damals, als sie, ein dreistes Persönchen,
den alten Goethe beschwatzte, und noch im Jahr dreiundvierzig ging ihr der Mund
über, weil sie ihr Geplauder mit Goethes Mutter, »Frau Rath«, unter dem Titel
»Dies Buch gehört dem König« endlich in Druck geben wollte. Nun versuchte sie,
ihrem Jugendfreund Wilhelm die Dringlichkeit sokratischer Darstellung mit dem
ihr eigentümlichen Babbeln zu deuten: »Muß ich mir da die alt' Frau Rath aus
dem Grab herhole, den arm aufgestört' Geist citiere, damit er für mich streite
und sich mit Philistern herumzause, bis ein Stück Wahrheit herausfällt! Ich
hab ihr alles in den Mund lege gemußt, was man mir nit glaube mag.«
    Gleich
anfangs die Kutschfahrt nach Darmstadt. Ein Sturzbach Wörter: »Ei was, ei nu!«
Ein Frankfurtsch Durcheinander, und munteres Räsonnieren über dies und das,
was grad so fällt an Früchten vom Baum der Erkenntnis, wenn Arnims tolldreiste
Witwe ihn schüttelt, damit jegliche Dummheit zu Fall komme.
    Dagegengehalten
verriet der Anhang zur »Socratie der Frau Rath«, nämlich der Bericht eines
Studenten, den Bettine auf Besuch bei den Grimms in der Lennestraße kennengelernt
und gegen fünfzig Taler Dankeslohn in Dienst genommen hatte, in keiner Zeile
helvetische Mundart, obwohl die Dokumentation unter dem Titel »Erfahrungen
eines jungen Schweizers im Vogtlande« stand. Als nüchterne Sozialreportage trat
sie zu Tage.
    Zum
ersten Mal wurden Armut und Elend dokumentiert, denn vor den Toren Berlins,
dem Hamburger, dem Oranienburger, im sogenannten Vogtland, hatten
landflüchtige, weil arbeitslose Weber, invalide Soldaten und Witwen mit
Kindern, die aus städtischen Quartieren gedrängt wurden, »Armen-Colonien«
gebildet. Demütigend ging es dort zu.
    Der
Student namens Heinrich Grunholzer schrieb einleitend: »Am leichtesten
übersieht man einen Theil der Armengesellschaft in den

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