Grass, Guenter
geläufig. Wann immer die bürgerliche Presse Forderungen der
Gewerkschaften mit wohltemperiertem Jammerton madig machte, sprach aus ihnen
der unsterbliche Lohndrücker Dreißiger: »Daß so'n Mann auch Sorgen hat und
schlaflose Nächte, daß er sein großes Risiko läuft, wovon der Arbeiter sich
nichts träumen läßt, daß er manchmal vor lauter Dividieren, Addieren und
Multiplizieren, Berechnen und wieder Berechnen nich weiß, wo ihm der Kopf
steht, daß er hunderterlei bedenken und überlegen muß und immerfort sozusagen
auf Tod und Leben kämpft und konkurriert, daß kein Tag vergeht ohne Ärger und
Verlust...«
Solche
und ähnliche Töne waren den Betriebsräten vertraute Musik. Dreißigers Klage,
»Was hängt nicht alles am Fabrikanten, was saugt nicht alles an ihm und will
von ihm leben!«, kam ihnen zum Lachen komisch vor. Nur mit dem schlesischen
Bühnendeutsch der hungerleidenden Weber hatten sie anfangs Mühe, wenn etwa der
alte Hilse spricht: »Na, Mutter, nu wer ich d'rsch Rädla bringen«, und Mutter
Hilse antwortet: »Nu bring's, bring's, Aler«, worauf der alte Hilse das Spulrad
vor sie stellt und sagt: »Sieh ock, ich wollt' d'rsch ja zu gerne abnehmen...«
Aber
vielleicht war einigen der Betriebsräte, die aus schlesischen
Vertriebenenfamilien stammten, auch weil sich die Umgangssprache im Ruhrgebiet
aus vielen Dialekten genährt hatte, der Redefluß der Hauptmannschen Weber nicht
allzu fremd. Schon verteilten sie Rollen, lasen laut mit. Sogar meine
historischen Rückblicke kamen an, so das Zitat aus dem Armenbericht des
Schweizer Studenten, der vor Berlins Stadttoren für Bettines Königsbuch in
Elendsquartieren recherchiert hatte: »Stube 53. Der Weber Hambach hat fünf
kleine Kinder. Er macht buntgestreiftes Halbtuch und verdient in vierzehn
Tagen 3 Thaler. Er ist mehrere Thaler Miete schuldig. Die meisten Kleider sind
versetzt. Das neunjährige Mädchen weinte bitterlich, als es der Mutter Halstuch
dem Gläubiger bringen mußte. In zwei Tagen hat die ganze Familie nichts als für
vier Groschen Brot gegessen.. «
Und
als ich Heines Gedicht »Die schlesischen Weber« deklamierte, das er im Pariser
Exil zum vierundvierziger Aufstand in Petersau und Langenbielau geschrieben
hatte, erschraken die Betriebsräte, als wäre ihnen Heine mit den drei Zeilen,
»Deutschland, wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen
Fluch, wir weben, wir weben!« zu nah gerückt. Desgleichen, als ich darum bat,
einen Bildband mit Käthe Kollwitz' Radierungen zum Weberaufstand
herumzureichen. Sie blätterten hastig darin, nur ein schon älterer Betriebsrat
wendete Blatt nach Blatt, langsam und stumm, als hätte er zurückdatiert sich,
als Weber, bedenken müssen.
Erst
als ich allzu breit auf die Marxengelssche These hinwies, es werde in den
industriellen Ballungsgebieten, wo das Proletariat organisiert sei, zum
revolutionären Aufstand gegen Kapital und Ausbeutung kommen, dann aber sagte,
diese Behauptung habe sich als falsch erwiesen, vielmehr seien es auf dem Land
die gottergebenen und unorganisierten Weber gewesen, die aufständisch wurden,
wollte mir niemand in unserer Tischrunde zustimmen. Und als ich mich weiterhin
im Historischen verlief, von den Karlsbader Beschlüssen, der
Demagogenverfolgung sprach, auf Arndt und Büchner, dann auf Herwegh,
Freiligrath, Fallersleben kam und überdies allzu umständlich das
widersprüchliche Demokratieverständnis vor und nach der achtundvierziger
Revolution mit Dokumenten zu belegen versuchte, schwand die Aufmerksamkeit der
Betriebsräte. Einige gähnten.
Nach
jeder Gesprächsrunde, so nach der letzten, tranken wir Bier, Dortmunder, wenn
ich mich deutlich genug erinnere, und schwatzten dummes Zeug. Dabei gings um
»Dalli Dalli«, eine Fernsehsendung, dann war Fußball dran.
Es
blieb bei dem einen Kurs im IG-Metall Schulungszentrum Sprockhövel. Kein
weiterer Bedarf, sagte man. Danach Dauerstreit, Demonstrationen. Die Demokratie
bewies sich in endlosen Debatten über Dekrete, die Berufsverbote zur Folge
hatten. Dafür, dagegen, darum, darüber wurde gestritten. Und ums nackte Dasein
ging's, dem Wilhelm Grimm, wie ich sehe, nur eine Spalte gewidmet hat.
Nach
seinem Wissen kam es erst im achtzehnten Jahrhundert auf, als Dasein zunächst
nur Gegenwart bedeutete. Erst danach wurde es in höherem Stil angewendet, etwa
bei Fichte, dem das »göttliche dasein unmittelbar sein lebendiges und
kräftiges daseien ist«.
Goethe,
sagt Wilhelm, liebt dieses Wort: »die
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