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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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gelegenen
Fasanerie und einem Abfluß, der später Landwehrkanal heißen sollte, erstreckte
sich der Tiergarten beiderseits der Charlottenburger Chaussee, die Fahr- und
Reitweg war, mit hundert und mehr abzweigenden Wegen zu Teichen und deren
Inseln bis hin zum Neuen See, vorbei an waldig dichtem Baumbestand, dann über
Wiesen als Blickschneisen auf besonders erhabene Baumgruppen, über Brücken,
längs Wasserläufen, zu diesem und jenem Rondell, von denen wiederum Wege
abzweigten. Und überall standen aus Stein gehauene Figuren: Götter und
Göttinnen, dralle Nymphen, vielerlei Getier, die Denkmale einstiger Kurfürsten
und Generäle, aber auch Verbotsschilder, die den Berlinern abgestuft deftige
Geldstrafen oder ersatzweise Gefängnishaft androhten, wenn sie es wagten, auf
Fußwegen zu reiten, Pflanzen auszureißen, Pfeife oder Zigarre zu rauchen, Müll
abzuladen oder sich gar unzüchtig in die Büsche zu schlagen. Der Tiergarten
stand unter Aufsicht.
    Wie
ich den Blick nicht abwenden kann. Dennoch bleibt mir dunkel, mit wieviel
jungen Liebhabern nächtens die stets dürstende Bettine den Schutz der Natur
nutzte oder nur wortselig den Vollmond feierte; aber die Grimmbrüder sehe ich
Mal um Mal unterwegs. Oft vormittags schon. Ich muß nicht lange warten. Diesmal
verbirgt mich eine dornige Hecke. Langsam nähern sie sich, sind verschattet,
kaum zu erahnen, werden nun deutlich auf einer Lichtung. Es herbstet bereits,
weshalb sie dickeres Tuch tragen.
    Nicht
sicher ist mir, in welchem Jahr sie den gemeinsamen Weg zum Platz an den
Zelten und von dort die Ahornallee unter die Beine nehmen. Jetzt aber höre
ich, wie Wilhelm mit unterlegtem Jammerton von einer Reise berichtet: über
Leipzig, wo er bei Reimer und Hirzel einkehrte, ging es, trotz eines
Magenleidens, weiter nach Frankfurt, wo er gemeinsam mit dem Bruder am ersten
deutschen Germanistentag teilnahm. Beide beeindruckten dort mit druckreifen
Reden; sie waren es - Jacob voran -, die die Philologen und Historiker
wegweisend versammelt hatten.
    Also
sehe ich sie gegen Ende Oktober sechsundvierzig im Tiergarten. Noch im
September schrieb Jacob an Hirzel:
    »Wilhelm
ist in Teplitz und will, ohne erst heimzukehren, über Wien und München nach
Frankfurt reisen, wer hätte ihm diesen reisemut zugetraut?«
    Davon
und gleichfalls vom anhaltenden Magendrücken bekommt der ältere Bruder mehr zu
hören: Ja, Haupt und Klee habe er in Leipzig getroffen. Nein, übers Wörterbuch
sei nur schonend gesprochen worden. Leider sei ihm auf Dauer der Reise sein
Gedärm beschwerlich geblieben.
    Dazu
schweigt Jacob, der im Gegensatz zu Wilhelm gerne reiste. War er doch kürzlich
noch in der Schweiz, in Italien gewesen, von wo aus in Briefen an den Bruder
die reich bestellte Poebene mit den ärmlichen Dörfern Hessens in Vergleich
gebracht wurde.
    Vorm
Rosengarten trennen sie sich. Ich folge Wilhelm, der sogleich dem Buchstaben D
hinterdrein ist und nach Daube und Dauer mit dem Stichwort Daumen, der über
lange Zeit als Daum einsilbig in Gebrauch war, nunmehr eines meiner
Lieblingsmärchen aus der Grimmschen Sammlung aufruft.
    Vielmehr
sind es zwei, »Daumesdick« und »Daumerlings Wanderschaft«, in denen sich des
Däumlings Abenteuer reihen: er duckt sich in ein Pferdeohr, verschwindet in
einem Mauseloch, in einer Kuh Bauch, in eines Wolfes Wanst, wo er jeweils
Zuflucht sucht und stockfinstre Enge findet. Dann fährt er durch den
Schornstein, flüchtet unter den Fingerhut, versteckt sich im Türritz, wird
unter einem Taler unsichtbar, landet wiederum im Magen einer Kuh, gerät nach
dem Schlachten ins Wurstfleisch, hängt als Blutwurst in der Räucherkammer, wo
er dem Fuchs in den Rachen gerät, danach aber, gegen des Vaters Hühner
getauscht, endlich frei kommt und mich, der ich von Kind an sein Reisebegleiter
war, mit eindringlichem Stimmchen beredet, ihn späterhin im Verlauf weiterer
Abenteuer langweilige Friedens- und wüste Kriegszeiten überleben zu lassen; wie
ich es tat vor mehr als fünfzig Jahren, indem ich einen Dreijährigen in die
Welt setzte, der nicht wachsen, der als Dreikäsehoch klein bleiben und auf
keinen Fall zu den Erwachsenen zählen wollte. Weißt du noch, Oskar, wie dauerhaft
dir Däumling den Weg gewiesen, dich widerständig gemacht, durch Dick und Dünn
geschickt hat? Sag danke, Oskar, sag danke!
     
    Er,
der sich unter Großmutters Röcke duckte, er, der aus Eigenwille treppab
stürzte, verdeckt unterm Tisch saß, er, der im Innern einer Tribüne
    den Takt

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