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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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Königreich Westphalen aufgehen ließ und ihn, weil im Dienst der
Franzosen, abhängig machte. Dem folgte die öde Zeitspanne der Restauration, die
Vertreibung aus Göttingen in die »unfreiwillige musze« des Exils, sodann das
Angebot der Verleger aus Leipzig, der Wechsel nach Berlin, wo ein
backenbärtiger König ein wenig Hoffnung machte, bald aber landauf landab
Stillstand befohlen wurde, doch immerhin europaweit das Zeitalter der Eisenbahn
begann. Als im März achtundvierzig die ersehnte Freiheit erst zaghaft zu Wort
kam, dann heftig aufflackerte, erlosch sie alsbald, nachdem sie zuvor schon in
Frankfurt zerredet worden war. Danach blieb ihm nur sein rückwärts gewendetes
Erforschen von Sprachdenkmälern, die verschüttet oder, weil verschandelt, kaum
noch kenntlich zu machen waren. Dabei ließ sich in wechselnden Gelehrtenstuben
kein Ende absehen: verschluckte Silben wollten im Kot gefunden werden, einst
ansehnliche Wörter fand er verkümmert zu Wörtern, die ihren Sinn verloren
hatten. Und immerfort redeten Dichter mit, die darauf bestanden, zitiert zu
werden. Dann starb ihm der Bruder weg. Und was er nicht ahnen konnte: rechtzeitig
wird ihm der eigene Tod die auf »Blut und Eisen«, was heißen sollte, auf drei
Kriegen fußende Reichsgründung unter Bismarcks Fuchtel ersparen; der allerdings
war dem Wörterbuch wohlgesonnen, weil, wie er sagte, das Wörtersuchen geeignet
sei, die Einheit Deutschlands zu festigen.
    Mein
Zeitalter hob an, als sich die Weimarer Republik gerade ein wenig von ihren
chronischen Schwächeanfällen erholt hatte, dann aber um so schneller verfiel,
worauf das Dritte Reich nur zwölf Jahre dauerte, doch Zeit genug ließ, jedweden
und so auch mich mit einem Völkermord zu belasten, der, auf den Ortsnamen
Auschwitz gebracht, für alle Zeit wie ein Kainsmal haftet. Danach lud der aus
Trümmern gedeihende Wohlstand zum Vergessen ein. Zeitgleich folgten einander
weit entfernt Kriege, die der Rüstungsindustrie Zugewinn brachten, nahmen Auto
und Flugzeug der Eisenbahn reiselustige Kunden, wechselte die Mode, erlaubte
die Pille Familienplanung, wollte Demokratie erlernt werden, schrieb ich Buch
nach Buch, machte mir einen Namen, ergriff als Sozialdemokrat Partei, glaubte
als Bürger den Sozialstaat gefestigt zu sehen und erlebe gegenwärtig, wie
Korruption zunimmt, während Grundrechte schwinden, indem Freiheit zur Worthülse
wird, sobald Reiche unverschämt reicher, Arme klaglos ärmer werden, so daß ich
gegen Ende meiner Zeitweil mit Jacob Grimm erkenne: »je näher wir dem rande des
grabes treten, desto ferner weichen von uns sollten scheu und bedenken, die
wir früher hatten, die erkannte Wahrheit, da wo es an uns kommt, auch kühn zu
bekennen.«
     
    So
spricht er vor versammelter Akademie. So kommt es ihm immer noch leicht
hessisch gefärbt über die Lippen. So höre ich ihn, wie der auf Länge des
Vortrages auferstandene Herder, der im Hintergrund sitzende Leibniz, wie
Adelung, Schottelius und der von Fichte und Hegel eingerahmte Schleiermacher
ihn hören. Wären Ulfilas und Luther dabei, verginge ihnen jeglicher
Theologenstreit.
    In
bedächtigen Sätzen wägt Jacob Vor- und Nachteile des Alters. Gemessen an allen
benennbaren Behinderungen, ist ihm das allmähliche Ertauben ein nur geringer
Schaden, weil »überflüssige rede, unnützes geschwätz nicht mehr unterbricht«.
Im Vergleich zum Erblinden wiegt ihm die Schwerhörigkeit weniger, weil »die
seit erfindung der druckerei bald allgemein durchgedrungene Verbreitung des
lesens« durch Blindheit verlorenginge.
    Annähernd
heiter zählt er auf, was alles seit Cicero an Beiwörtern dem Greis anhängt:
mürrisch ist er, grämlich, eigensinnig, ableibig. Er gilt als Knicker,
Erbsenzähler, als betrübte Hausunke. Beweisführend zitiert er Hans Sachs:
»verzehren die zeit einsam wie ein unk.«
    Dieses
Tier, gelbbäuchig, anderenorts rotbäuchig, hängt mir an. Sah ich doch allzu
oft, weil ich hinsah und mich nicht beschwichtigen ließ, was als Übel bereits
seinen Vorschein hatte. So in einem meiner Bücher, das unter dem Titel
»Unkenrufe« von einer deutsch-polnischen Friedhofsgesellschaft und deren
Scheitern berichtet, aber der Fahrradrikscha Zukunft verspricht.
    Und
weiteres Scheitern machte mich vorlaut. Nahm doch, was Jacob Grimm auch von
sich wußte, mit dem Alter das Unken zu. Oder sind es vermehrte Anlässe, die den
warnenden Ruf abnötigen? Sind meine Warnrufe, die gelegentlich laut werden,
weil sich die Demokratie in Zerfall

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