Grass, Guenter
jeweiligen
Faden spinnt, derzeit einen langgezwirnten, mit dem Grimms Wörter versponnen
werden, auch solche, die sich, trotz garantiert kurzer Lebensdauer, neu bilden.
Besorgt
bin ich um den verbliebenen Bruder, dessen Arbeit am Buchstaben F schon wieder
ins Stocken geraten ist, weil die »Rede über das Alter« ihn hinderte, sich über
froh und fromm in Richtung Frucht zu bewegen. Er konnte nicht enden, setzte
eine Satzperiode hinzu, kaum daß er Wörter gestrichen hatte.
Immerhin
spricht aus ihm jetzt, da sein akademisches Publikum zu ermüden beginnt und
auch die Gäste aus Vorzeiten sich des Gähnens kaum erwehren können, gesammelte
Erfahrung, wenn er dem Alter die besondere Eignung nachsagt, Begonnenes zum
Abschluß zu bringen: »ein philolog durfte wagen zuletzt an ein Wörterbuch die
hand zu legen, dessen fernliegendes, fast zurückweichendes endeziel in der
engen frist des ihm noch übrigen lebens, wo die regentropfen schon dichter
fallen, leicht nicht mehr zu erreichen steht.«
Er
ahnte es. Er war sich gewiß, daß sein baldiges Ende mitgemeint war, sobald er
zum Ausklang seiner Rede den Tod des Greises anrief. Vom »verglimmen« und von
der »abendröthe am himmel« sprach er und setzte dem Leben einen Schlußpunkt:
»nach ihr folgt düstere dämmerung und dann bricht nacht ein.«
Kein
verklärendes Wort mochte er sich abgewinnen. Der Tod war ihm ein Einsilber
zwischen vielen, die dem Buchstaben T unterzuordnen waren: Tat, Teig, Tier,
Topf und Tür. Nur einige derbe Redensarten des Volkes nannte er treffend: »sein
letztes brod ist ihm gebacken, sein letztes kleid geschnitten.«
Eher
schleppender Beifall gab Antwort. Herders Erscheinung verblaßte. Schottelius,
Leibniz, Adelung und weitere Perückenträger zogen sich in ihre Zeitweil zurück.
Das Dreigestirn, Schleiermacher zwischen Fichte und Hegel gezwängt, war wohl
doch nur ein Trugbild. Desgleichen hätte sein letztes Wort sowohl Ulfilas wie
Luther vertrieben, wäre es mir gelungen, diese Kronzeugen seines schürfenden
Suchens herbeizuwünschen. Der Saal leerte sich. Gleich nach ihm schlich ich
mich davon.
Nun
aber drängt sich mir der Tod auf. Nein, Freund Jacob, nicht an den allgemeinen,
an meinen Tod denke ich, an den vorzuahnenden Punkt nach all den kurzen und
langen Sätzen. In früherer Zeit war es der Tod von Freunden, der mir naheging,
ohne daß ich meinte, er könne auch mich so plötzlich oder peinigend verzögernd
auslöschen. Ich sah mich durch ihn beleidigt, wenn er jemanden wegraffte, der
mir lieb war. Indem ich zufällig noch lebte, empfand ich Leben als Geschenk,
verdient oder unverdient. Der Millionen zählende Tod systematisch Ermordeter,
der gegenwärtig in fernen Ländern alltägliche Hungertod, dessen Zahl
gleichfalls Jahr für Jahr in die Millionen geht, der in Statistiken gelistete
Massentod erfüllt mich mit Scham, empört mich, bleibt aber dennoch entrückt,
während mir das langsame Sterben meiner Mutter nicht aufhören will, als sei
ihr Tod erst gestern eingetreten.
Jetzt
aber steht er mir bevor. Nach ihm wird nichts sein. Vielleicht ist es
altersbedingt mein gestörter, sich mehr und mehr verweigernder Schlaf, der ihn
mir nahebringt. Ich treffe, weil im allgemeinen Chaos, wie darin geübt, auf
Ordnung bedacht, Vorkehrungen, ziehe Bilanz, räume auf. Gewiß, noch bleibt
Neugierde auf den kommenden Frühling, die Spargel-, die Erdbeerenzeit. Die
geplante August-Bebel-Stiftung will auf den Weg gebracht, das wahrscheinlich
letzte Buch für den Druck fertig werden, auch lasse ich ungern von meiner Frau,
den Töchtern, Söhnen, den Enkeln, dem konfusen Zeitgeschehen, meinem Vergnügen,
dem Achterbahnfahren und den Fußballergebnissen am Wochenende. Doch da mir,
umringt von mehr und mehr Ungewißheiten, einzig der Tod gewiß ist, will ich
ihn, wie Jacob es tat, als ungeladenen, aber unumgänglichen Gast empfangen und
allenfalls mit der Bitte belästigen: mach es kurz und schmerzlos.
Noch
fremdelt er, wird aber vertrauter mit jeder schlafarmen Nacht. Ich weiß: auf
ihn ist Verlaß.
Zwei
weitere Jahre hielt Jacob Grimm aus. Oder eher: diese Frist forderte er ein.
Wilhelms Witwe und deren Tochter Auguste pflegten ihn, soweit er es zuließ.
Herman kam selten; wenngleich Philologe, war Wilhelms Sohn eher auf eigene
Dichtung nach Arnims Vorbild und auf Bilderkunst bedacht, kaum auf Wörtersuche.
Niemand ging Jacob zur Hand. Er verlangte auch nicht nach Hilfe, verweigerte
sie, sobald ihm Beistand angeboten
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