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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Fähigkeiten noch Intelligenz entscheidend für den beruflichen Fortgang waren, spielte auch dieser Aspekt keine Rolle. Der Unterricht beschränkte sich im Allgemeinen auf die Fächer Lesen, Schreiben, Rechnen, Französisch, Musik, Geographie, Kochen und Regelbefolgung. Regelbefolgung hieß, man saß in einem Kreis und war sich darin einig, wie wichtig es war, die Regeln zu befolgen. Unter Schülern hieß das Fach auch Abnicken.
    Ich begab mich zum Büro der Oberlehrerin und klopfte nervös an die Tür.
    »Schön, dass Sie kommen konnten«, sagte sie, nachdem ich erklärt hatte, wer ich war und warum man mich hergeschickt hatte. Sie stellte sich mir als Miss Enid Bluebird vor. Sie hatte ein abgetragenes Tweedkostüm an, und ihr Gesichtsausdruck zeigte die Schicksalsergebenheit einer innerlich Zermürbten, was nicht weiter verwunderlich war, denn ihr Büro versank in Stapeln verstaubter und vergilbter alter Prüfungsarbeiten.
    »Mir ist es gelungen, den Rückstand zu dezimieren. Er liegt jetzt bei achtundsechzig Jahren«, verkündete sie mit einem gewissen Stolz auf ihren Erfolg. »Gegen Ende des Jahrzehnts hoffe ich so weit zu sein, dass ich mit den Korrekturen der Arbeiten noch lebender Schüler anfangen kann.«
    »Eine ehrenwerte Absicht«, antwortete ich und überlegte, wie ich bei dieser Gelegenheit behutsam meine Warteschlangentheorien ins Spiel bringen konnte. »Entschuldigen Sie meine Unverschämtheit, aber wäre es nicht besser, wenn Sie die Reihenfolge umkehren, sodass die jüngsten Prüfungsarbeiten zuerst korrigiert werden? So könnten die Schüler ihre Ergebnisse eher erfahren, und es würde, soweit ich das beurteilen kann, auch nicht gegen die Regeln verstoßen, denn die Ausrichtung der Warteschlange wird darin nicht näher spezifiziert.«
    Sie sah mich scheel an, lächelte aber dann freundlich.
    »Eine hübsche Idee«, sagte sie, und ich merkte, dass sie keinen Gedanken an meinen Vorschlag verschwendet hatte. »Aber da jeder Schüler über dem Durchschnitt liegt, ist es gar nicht nötig, das System zu verbessern.«
    »Warum korrigieren Sie die Arbeiten dann überhaupt?«, fragte ich sie. Die tumbe Zurückweisung meines Vorschlags hatte mich angestachelt.
    »Um sicherzustellen, dass das Bildungssystem funktioniert«, antwortete sie, als wäre ich schwer von Begriff. »Wenn ich hart arbeite, schaffe ich es bis zu meiner Pensionierung vielleicht, den Rückstand so weit aufzuholen, dass wir nur noch fünfzig Jahre hinterherhinken – dann wüssten wir, wie gut unsere Schüler vor einem halben Jahrhundert waren. Und wenn wir uns ganz und gar dieser Aufgabe verschreiben, dann werden wir vielleicht in zwanzig Jahren wissen, wie gut sie jetzt sind.«
    »Dann haben Sie ja kaum Zeit zum Unterrichten.«
    »Ich habe überhaupt keine Zeit«, sagte sie leicht von oben herab. »Das erklärt auch, warum Nützliche Arbeiter wie Sie für das reibungslose Funktionieren der Schule unbedingt erforderlich sind. Was dachten Sie? Einen richtigen Lehrer zum Unterrichten haben wir hier seit drei Jahrhunderten nicht mehr gehabt.«
    Sie machte mich mit der Klasse bekannt, und ich gab den Nachmittagsunterricht. Munsell hatte versucht, die Welt für jeden erlernbar zu machen, indem er einfach die Zahl der Fakten reduzierte; es gab also gar nicht so viel, was man den Schülern beibringen konnte. Ich probierte es trotzdem, so gut ich konnte, und nachdem ich das Bruchrechnen mit ihnen geübt und etwas über meine Heimatstadt erzählt hatte, gab ich ihnen ein Rätsel auf. Anhand der Absatzprognosen von Ovomaltine für das Jahr, das als 2083 bezeichnet wurde, sollten sie schätzen, wie viele Einstige es mal gegeben hatte. Danach diskutierten wir darüber, warum die Einstigen früher wohl so hochgewachsen gewesen waren, welche Lebensmittel die Epiphanie überstanden hatten und welche Gründe es gegeben haben könnte, warum unsere Vorfahren durch die Anordnung ihrer Jahreszahlen ohne die vorangestellte Doppelnull eine Zukunft für sich offenbar ausgeschlossen hatten. Es folgte eine allgemeine Frage-und-Antwort-Stunde, in der sie von mir wissen wollten, ob Gesindel Babys frisst und warum die Tische der Einstigen vier Beine hatten, statt der für die Stabilität viel günstigeren drei wie bei uns. Ich gab mir redlich Mühe, und nachdem ich noch eine kurze Einführung in das Lesen von Strichcodes gegeben hatte, kamen wir gegen Ende auf das Letzte Kaninchen zu sprechen. Zum Glück hatte ich vorher in einer älteren Ausgabe des Spectrum einen

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