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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Kugel gehörte nicht mir, und ich hatte sie noch nie vorher gesehen. Aber sie konnte unmöglich einfach so ins Zimmer hereingeweht sein.
    »Sie haben meine Schneekugel gestohlen!«, kam eine Stimme von der Tür.
    Ich drehte mich um, und der Apokryphe Mann funkelte mich böse an.
    »Nein! Ich habe sie überhaupt nicht gestohlen!«, entrüstete ich mich. »Ich habe sie auf meinem Bett gefunden.«
    Der Apokryphe Mann sah mich eine Weile lang schweigend an. Dann sagte er mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme: »Wissen Sie, was das heißt?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Dass ich nicht unsichtbar bin!«

Drei Fragen
    1.6.02.13.056 : Im Allgemeinen sind Nacktheit und unbefangenes Betrachten des Körpers zu fördern. Kleidung ist nur vonnöten, wenn und wo der Anstand es gebietet. (Siehe Anhang XVL )
    »Soll das heißen«, fragte mich der Apokryphe Mann, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass man ihn nur deswegen ignorierte, weil eine obskure Regel es so wollte, »dass ich all die Jahre über splitternackt herumgelaufen bin und die Leute mich immer gesehen haben?«
    »So ist es. Aber da Sie, technisch gesehen, nicht existieren, braucht Ihnen das auch nicht peinlich zu sein.«
    »Oh«, entfuhr es ihm erleichtert. »Gott sei Dank.«
    Ich musterte den Mann. Apokryph konnte alles Mögliche sein, von Materiellem wie dem berüchtigten, nicht näher gekennzeichneten Vogel mit dem langen Hals, doppelt so groß wie ein Strauß, bis hin zu Abstraktem – einer verbotenen Phantasie oder einem Tabu, über das nicht gesprochen werden durfte. Dieser Mann war der erste menschliche Apokryphe, der mir begegnet war. Dabei sah er gar nicht so viel anders aus als wir, ausgenommen seine Postleitzahl, die verkürzt war. Direkt unter seinem Schlüsselbein war die Zeichenfolge » NS-B4 « eingeritzt. Ich hätte ihn gerne gefragt, warum, aber das erschien mir in diesem Moment unpassend. Außerdem ergriff er vor mir das Wort.
    »Die Fleischbrühe gestern war ausgezeichnet«, sagte er.
    »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«
    »Was gab es zum Nachtisch?«
    »Eingelegte Zwiebeln und Vanillesoße. Darf ich Sie mal etwas fragen?«
    »Kommt darauf an.«
    »Worauf?«
    »Ob Sie Marmelade haben.«
    »Sogar viel«, antwortete ich, froh, dass der Apokryphe Mann so leicht zu bestechen war.
    »Ich nehme nicht jede«, sagte er mit einem tückischen Grinsen. »Ich möchte Boysenbeere.«
    Boysenbeere? Das war natürlich etwas ganz anderes. Boysenbeere war Feinkost. Marmelade war teuer, aber man konnte sie kaufen. Boysenbeere dagegen, das war wie eine Farbe jenseits der üblichen Skala. Es gab sie, aber es war so gut wie unmöglich, an sie heranzukommen. Der Besitz von Boysenbeerenmarmelade war das Privileg der Ultravioletten, und ihre Herstellung wurde streng kontrolliert. Ich machte ein langes Gesicht, und der Apokryphe Mann kicherte.
    »Ja, es muss Boysenbeere sein. Das Verhältnis beträgt drei zu eins. Ein Marmeladenglas gegen drei Fragen. Das ist ein gutes Geschäft.«
    »Ein Glas gegen fünf Fragen«, schlug ich vor.
    Jetzt zog er ein langes Gesicht.
    »Haben Sie überhaupt Boysenbeerenmarmelade?«
    »Möglicherweise.«
    »Dann schlage ich vor: zwei Fragen und eine Zusatzfrage.«
    »Eben haben Sie gesagt drei Fragen.«
    »Da dachte ich noch, Sie hätten keine Marmelade.«
    »Vier.«
    »Alle Achtung. Ich respektiere einen hartnäckigen Händler«, räumte er ein. »Drei Fragen, etwas Pikantes und ein paar Lebensweisheiten gegen ein Glas. Letztes Angebot.«
    »Einverstanden.«
    »Sie haben aber doch Boysenbeerenmarmelade, nicht?«
    Ich hatte tatsächlich welche, aber es war reiner Zufall. Ein Glas, das ich vor vielen Jahren mal geschenkt bekommen hatte, kurz nachdem meine Mutter dem Mehltau erlegen war. Ich holte es aus meinem Koffer und überreichte es dem Mann, der es dankbar annahm. Mit seinen schmutzigen Fingern machte er sich gleich über die Köstlichkeit her und aß das Glas bis auf den Grund leer. Widerlich. Entsetzt musste ich mit ansehen, wie er in Minuten verschlang, wozu ich mindestens ein halbes Jahr gebraucht hätte. Schweigend beobachtete ich ihn, bis er auch den allerletzten Marmeladenrest aus dem Glas gekratzt hatte und sich zum Schluss die Finger leckte, die jetzt viel sauberer waren als vorher.
    »War das gut!«, bedankte er sich nett und gab mir das leere Glas zurück. »Wie lautet Ihre erste Frage?«
    Ich überlegte kurz. Seine gestauchte Postleitzahl reizte mich natürlich, aber es gab Wichtigeres.
    »Warum sind Sie ein

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