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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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vorbehalten sein. Die Zeit ist auf jeden Fall auf unserer Seite. Sagen Sie, kann ich mich irgendwie revanchieren?«
    Ich überlegte einen Moment.
    »Ich würde heute Abend gerne die letzte Folge von Renfrew hören. Ich möchte noch erfahren, ob er die Zugräuber fasst oder nicht.«
    Sie lachte.
    »Ich habe keine Ahnung, wer diesen unentschuldbaren Missbrauch der Zentralheizungen zu verantworten hat, aber ich bin sicher, dass man ihn dazu überreden kann.«
    »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, bedankte ich mich. »Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen?«
    Gerade hatte ich den Apokryphen Mann durch die Haustür eintreten sehen. Ich fand ihn im Wohnzimmer, geistesabwesend einen der Vettrianos betrachtend.
    Ich sagte ihm, dass ich Boysenbeerenmarmelade für ihn hätte. »Wirklich?«, sagte er. »Zeigen Sie sie mir.«
    Er machte ein enttäuschtes Gesicht, als ich ihm meine magere Ausbeute präsentierte, aber er wollte sein Versprechen halten, und wir setzten uns aufs Sofa.
    »Sie haben mir gestern gesagt, dass Sie sich an die Zeit vor dem Model T erinnern können, als der Ford Pritschenwagen das bevorzugte Auto war.«
    »Ja.«
    »Ich habe im Buch der Rücksprünge nachgeschlagen. Pritschenwagen wurden im Rahmen des Dritten Großen Sprungs Zurück abgeschafft, vor einhundertsechsundneunzig Jahren.«
    »Wie lautet nun Ihre Frage?«
    »Wie alt sind Sie?«
    Er dachte einen Moment nach und zählte dann mit den Fingern.
    »Im August werde ich vierhundertzweiundfünfzig. Über eine Geburtstagskarte würde ich mich freuen, ein Geschenk ist nicht nötig. Es sei denn, es wäre Marmelade.«
    »Wie kommt es, dass Sie schon so lange leben?«
    »Weil ich nicht sterbe. Schauen Sie mal.«
    Er krempelte sein Hemd hoch und zeigte mir seinen Code GA-B4 , der an der Stelle in die Haut geritzt war, wo bei anderen normalerweise die Postleitzahl stand.
    »Es bedeutet ›Geringfügiges Altern – Baxter Nummer vier‹. Das ist mein Name. Mr Baxter. Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich einen Geschichtswissenschaftler ausdenken. Mit welchen Grundvariablen würden Sie ihn ausstatten?«
    Ich musste überlegen.
    »Intelligenz, um analysieren zu können.«
    »Sie sind sehr freundlich. Was noch?«
    »Ausgezeichnetes Gedächtnis.«
    »Sie Schmeichler. Was noch?«
    »Langlebigkeit?«
    Er lachte.
    »Genau. Anders als Ihnen bleibt mir die lästige Alterung, Fluch und Segen der Menschheit, erspart.«
    Ich sah ihn schweigend an.
    »Dann haben Sie sicher viel erlebt.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nicht viel. Alles! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mal Historiker war. Das war eine Lüge. Ich bin immer noch Historiker. Aber die Baxters unterrichten nicht, die Baxters beobachten. Sie notieren, sie archivieren, sie stellen Berichte zusammen.«
    »Für wen machen Sie das?«
    »Für die Zentrale.«
    »Warum die Geschichte aufzeichnen«, fragte ich, »wenn niemand mehr Geschichte studiert?«
    »Sie haben mich falsch verstanden«, sagte er. »Ich existiere nicht, um Ihre Geschichte aufzuzeichnen. Sie existieren, damit ich etwas zum Aufzeichnen habe.«
    Ein interessantes Konzept, wenn auch etwas verworren. Genauso gut könnte man annehmen, dass es uns nur gibt, damit wir Häusern eine Funktion geben oder Ovomaltine und Bindfäden einen Markt.
    »Damit ich Sie richtig verstehe«, murmelte ich. »Wir sind also nur hier, damit Sie etwas zum Studieren haben?«
    »So ist es. Ich bin erstaunt, wie bereitwillig Sie das Konzept akzeptieren. Die meisten, die über den Sinn des Lebens nachdenken, sind enttäuscht, wenn sie ihn gefunden haben.«
    »Wenn das so ist«, sagte ich und überlegte. »Was hat dann Ihr Leben für einen Sinn?«
    Er lachte wieder.
    »Welchen Sinn? Sie alle zu studieren natürlich. Es ist die perfekte Symbiose. Sobald meine Studien abgeschlossen sind, werde ich von der Fakultät in Smaragdstadt wieder einbestellt, um ihr meine Ergebnisse vorzustellen.«
    »Und wann wird das sein?«
    »Wenn die Studien abgeschlossen sind.«
    »Woher wissen Sie, wann es soweit ist?«
    »Weil ich dann von Smaragdstadt wieder einbestellt werde.«
    »Das ist doch verrückt!«
    »Was ist hier nicht verrückt? Wenn man sich so umsieht.«
    Dem konnte ich nur zustimmen, doch der Apokryphe Mann, vielleicht weil er es nicht gewohnt war, dass ihm jemand die Gelegenheit gab, über sich zu sprechen, redete unbeirrt weiter.
    »Ursprünglich gab es mal zehn Baxters, aber die Verzweiflung hat alle dahingerafft außer einem. Der Willensschwächste sollte der letzte Baxter sein,

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