Grau - ein Eddie Russett-Roman
nur einen Fahrgast abholen und habe immer mindestens ein halbes Dutzend Telegramme auszutragen.
»Fahren Sie für länger weg, Sir?«, fragte er.
»Für immer, Stafford. Vielen Dank für alles.«
»Sehr freundlich, Sir. Ich hoffe, es entwickelt sich alles aufs Angenehmste und ohne Zwischenfälle für Sie.«
»Ja«, sagte ich bedächtig, »das hoffe ich auch.«
»Also wieder zurück zur gewohnten Routine, Sir?«
»Genau«, antwortete ich, »davon gehe ich aus.«
»Master Edward?«
»Ja, Stafford?«
»Unterschätzen Sie nicht die Kraft romantischer Gefühle, unter gar keinen Umständen.«
»Meinen Sie Jane?«
Er antwortete nicht, wünschte mir nur eine gute Reise, tippte sich ein zweites Mal an die Mütze und war schon wieder weg.
Ich lehnte mich zurück in meinen Sitz, verwirrt und auch etwas verärgert. Vielleicht hatte Stafford mich nur auf den Arm nehmen wollen, vielleicht hatte er mit seiner Bemerkung auch gar nicht Jane gemeint. Ich versuchte, nicht an sie zu denken, und hielt mich an das, was man mir beigebracht hatte. Keine Unruhe stiften, nicht auffallen, die Chromatische Skala beachten und vor allem: auf keinen Fall das Warteschlangensystem verbessern wollen. Nach allem, was ich in Ost-Karmin gesehen hatte, besaß ich jetzt das Rüstzeug für ein langes und erfülltes Leben. Mit etwas Glück würde ich Constance heiraten, das Kollektiv mit Bindfäden versorgen und den Oxbloods den knallrotesten Sohn schenken, den sie je gesehen hatten. Eigentlich war doch alles so einfach, und in mancher Hinsicht dankte ich meinem Glücksstern dafür, dass ich die Gelegenheit erhalten hatte, mir Klarheit über meine gefährliche negative Einstellung zu verschaffen.
Der Stationsvorsteher hielt seine Signalfahne bereit, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Ost-Karmin spürte ich eine tiefe Entspannung. Ich musste leise lachen und schaute aus dem Fenster. Der einzige Passagier, der angekommen war, sah aus wie Bertie Magenta. Dieselben großen Ohren und dieselbe verpeilte Art. Er trug einen sommerlichen leichten, veilchenblauen Dreiteiler, einen farblich dazu passenden Hut, und er hatte eine kleine Reisetasche dabei. Er hielt sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase, und seine Schuhe hatte er in Zeitungspapier eingewickelt, wahrscheinlich, um sie sich nicht schmutzig zu machen.
»Bertie?«, sagte ich, nachdem ich das Zugfenster heruntergezogen hatte. »Bist du das?«
»Hallo, Eddie«, begrüßte er mich. »Fährst du weg?«
»Das ist eine lange Geschichte. Aber was in Munsells Namen machst du denn hier?«
Er lachte. »Sehr witzig. Soll das wieder einer deiner Scherze sein?«
»Überhaupt nicht«, antwortete ich. »Ich möchte es wirklich gerne wissen.«
»Du hast mir geschrieben, ich soll herkommen. Irgendwas von einer sagenhaft munteren Sub-Beta-Braut, die bereit wäre … «, er beugte sich vor und senkte die Stimme, »… mir ihre Gunst zu gewähren, auf Probe.«
»Tommo!«, rief ich, als mir klar wurde, was passiert war. Dummerweise hatte ich in seiner Gegenwart Berties Namen erwähnt.
»Nein, ich glaube, sie heißt Imogen, und so wie sie klingt und aussieht, ist sie genau das richtige Püppchen für mich. Wenn sie nur halb so saftig ist, wie du sie in deinem Telegramm beschrieben hast, zahle ich dir deine fünfzig Meriten Vermittlungspreis mit Freuden.«
»Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.«
»Was?«, sagte Bertie. »Ist sie also doch nicht zu haben?«
»Nein. Das heißt, doch schon, aber … «
»Willkommen in Ost-Karmin!«, tönte eine Stimme, und als ich mich umdrehte, sah ich Tommo und Carlos Fandango den Bahnsteig entlangschlendern. Hinter ihnen, auf dem Bahnhofsvorplatz, stand der Ford des Dorfes. Bertie wurde als Ehrengast empfangen, und während Fandango ihn herzlich begrüßte und zum Wagen geleitete, kam Tommo an mein Fenster.
»Was machst du denn hier im Zug, Eddie?«
»Was ich gleich bei meiner Ankunft vor ein paar Tagen hätte tun sollen. Und nebenbei, du hattest kein Recht, Bertie hierherzubestellen.«
Er lachte.
»Ich hatte mir vorgenommen, dich einzuweihen, aber ich wusste nicht, wie ich es dir hätte erklären sollen, ohne dass du in die Luft gegangen wärst. Deswegen habe ich es doch lieber gelassen.«
»Du hast ein Telegramm fälschlich unter meinem Namen aufgegeben!«
»Sagen wir mal so: Ich habe den Absender falsch angegeben. Auch nicht viel schlimmer als der Betrug mit dem Kaninchen. In Wirklichkeit tue ich den Magentas einen Gefallen. Und das
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