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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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hier eine Anomalie«, sagte Stafford, »deswegen können sich hier schon mal Kugelblitze bilden. Es gibt Pläne, im Westgebirge ein Fangnetz aus Stahl aufzustellen, aber das sind nur Gerüchte.«
    Linienblitze ließen sich leicht aus Wohngebieten ableiten, Kugelblitze dagegen folgten ihren eigenen Gesetzen. Sie ließen sich vom Wind treiben, verfingen sich in Wirbeln und drangen in Häuser ein. Und sie waren anhänglich, sie hefteten sich an alles Organische. Ein schlimmer Kugelblitz konnte sein Opfer mit einem Schlag verbrennen; ängstliche Bewohner, die ohne Löffel waren, ritzten ihre Namen in Stahlmarken, die sie immer in der Hosentasche mitführten, nur für den Fall.
    Wir rollten weiter auf der Zufahrtsstraße in den Ort hinein, eine Traube von Häusern, auf einer leichten Erhebung gelegen. Die Wohngebäude waren im bunten Stilgemisch der Abfallverwertung errichtet, einem Mischmasch aus Baumethoden, die sich unterschiedlicher Materialien bedienten, angefangen bei dem uralten gemeißelten Stein bis hin zu wiederverwertetem Holz, Gummidachziegeln, Backstein, Lehm und an manchen Stellen modernerem, in Eichenbalken eingefasstem Lehmflechtwerk. Während wir von der Perpetulitbahn auf eine Pflastersteinstraße wechselten, fragte mein Vater den Gepäckträger nach Robin Ocker, dem ehemaligen Mustermann.
    »Mr Ockers Abwesenheit wird allgemein sehr bedauert«, bemerkte er. »Er hinterlässt eine Frau und eine Tochter.«
    »Er wird sie doch bestimmt bald nachholen, oder?«, fragte ich, da ich Staffords Bemerkung völlig falsch verstanden hatte.
    »Ich glaube nicht, dass er überhaupt noch irgendetwas tun wird.«
    »Mir hat man gesagt, Mr Ocker sei ›aus dem Berufsleben ausgeschieden‹.«
    »Ach so!«, sagte Stafford. »Euphemistisch korrekt, aber es könnte auch missverstanden werden. Ich kann nur wiedergeben, was der Rat festgestellt hat, nämlich dass Mr Ocker einer … ›fatalen Selbstfehldiagnose‹ erlegen ist.«
    »Robin ist tot?«, fragte mein Vater.
    »Natürlich bin ich kein medizinischer Fachmann«, antwortete der Gepäckträger nachdenklich, »aber ja, doch, das trifft zu. Heute genau vor vier Wochen.«
    Dad und ich sahen uns an. Aus irgendeinem Grund hatte man uns das nicht mitgeteilt, und während ich noch darüber nachdachte, was mit ›fataler Selbstfehldiagnose‹ gemeint sein könnte, kamen wir an eine rot gestrichene Tür in einer geschlossenen Häuserzeile, welche die Südseite des Marktplatzes bildete. Wobei die rote Tür der Lieferanteneingang an der Rückseite des Gebäudes war; die gegenüberliegende Hausseite mit dem Haupteingang zeigte auf den Marktplatz hinaus. Gut möglich, dass mein Vater darauf bestanden hätte, durch das Haupttor zu gehen, wenn wir nicht gerade die verstörende Nachricht von Robin Ockers Ableben erhalten hätten. So sagte er nichts.
    Der Gepäckträger schloss die Tür auf, bat uns einzutreten und stellte unsere Taschen in der Diele ab. Wir blieben stehen und blinzelten in die Düsternis.
    »Mein Gott«, sagte er, »das ist ja so dunkel wie in einem Froschleib hier.«
    Er ging vor bis zur Küche, wo ich ihn im schwachen Licht des Fensters an der Wickelkurbel drehen sah, dann an den beiden manuellen Gelenkbedienstäben hantieren, die von der Decke hingen. Der Dachspiegel über uns schwenkte zur Nachmittagssonne aus, fing die Strahlen auf und warf sie hinunter in den Lichtschacht und von dort weiter auf eine in der Decke eingelassene Milchglasscheibe.
    »Oh«, sagte Stafford, als das Licht die trübe Finsternis aus dem Haus vertrieb, »ich hätte die Heliostatsteuerung vorher aufziehen sollen. Das Haus war lange unbewohnt. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    »Wie um Himmels willen kann man sich eine ›fatale Selbstfehldiagnose‹ stellen?«, sagte mein Vater, der nicht darüber hinwegkam, dass sein Kollege tot sein sollte. Der Gepäckträger überlegte einen Moment.
    »Der Rat hat bei der Untersuchung entschieden, dass Mr Ocker wohl gedacht haben muss, er hätte den Mehltau, und sich selbst ins Grüne Zimmer eingeliefert, um die Sache zu beschleunigen. Wie sich gezeigt hat, stimmte das nicht.«
    »Ein schrecklicher Irrtum.«
    »Allerdings, Sir. Ein feiner Mensch, unser Mr Ocker. Wir haben seit sieben Jahren keinen einzigen Bewohner an den Mehltau verloren. Mr Ocker war nicht farbtonspezifisch , wenn Sie verstehen.«
    »Munsell sagt, medizinische Versorgung sei für alle da«, gab mein Vater zu bedenken, doch er wusste, was Stafford meinte. Es gab Mustermänner,

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