Grau - ein Eddie Russett-Roman
an.
»Kennen Sie sich?«, ertönte eine strenge Stimme. Hinter ihr stand Sally Schwefel, die Gelbe Präfektin, wie ich vermutete. Sie war von Kopf bis Fuß in synthetisches Gelb gekleidet, maßgeschneiderter Rock und Jacke, genau wie Bunty McMostrich, die Aufseherin am Bahnhof. Sogar ihre Ohrringe, ihr Haarreif und ihr Uhrenarmband waren gelb. Die Farbe war so hell, dass mein Kortex kurz eine Induktionsstörung erlitt. Ihre Kleider verloren die grelle Tönung, und sie nahmen den eklig-süßlichen Geruch von Bananen an. Natürlich war es kein echter Geruch, eher ein gefühlter.
»Ja«, bestätigte ich nun, ohne nachzudenken. »Sie hat gedroht, mir den Kiefer zu brechen!«
Es war eine gravierende Anschuldigung, und ich bedauerte sie auf der Stelle. Russetts petzen normalerweise nicht.
»Wo war das?«
»In Zinnober«, antwortete ich, schon kleinlauter.
»Stimmt das, Jane?«, fragte Mrs Schwefel pikiert.
»Nein«, antwortete Jane in einem gleichmütigen Ton, der vollkommen anders klang als der bedrohliche, den ich heute Morgen von ihr gehört hatte. »Ich habe den jungen Mann noch nie gesehen, und ich war auch noch nie in Zinnober.«
»Was ist los?«, fragte mein Vater, der zu uns in die Diele gestoßen war. Offenbar hatte er keine Lust mehr gehabt, sich vor dem Kamin in Positur zu setzen, einen Ellbogen auf dem Sims abgestützt.
»Sally Schwefel«, stellte sich die Präfektin vor und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin. »Gelbe Präfektin.«
»Holden Russett«, erwiderte mein Vater. »Mustermann, Urlaubsvertretung. Und sie ist … ?«
»Jane G23«, erklärte Mrs Schwefel. »Sie ist Ihnen als Hausmädchen zugeteilt. Leider hat sie nicht viel positives Feedback, aber ich kann sonst niemanden entbehren. Sie steht Ihnen eine Stunde pro Tag zur Verfügung. Was darüber hinausgeht, müssen Sie unter sich aushandeln. Ich entschuldige mich im Voraus für alle Unannehmlichkeiten. Jane ist ein Problemkind.«
»Eine Stunde nur?«
»Tja«, sagte Mrs Schwefel achselzuckend. »Tut mir leid, aber Ihre Wäsche müssen Sie schon selbst waschen und Ihr Bett selbst machen. Die Überbeschäftigung ist gegenwärtig sehr schlimm. Zu viele Graue in Rente, das ist unproduktiv, wenn Sie mich fragen.«
»Sie könnten ihnen die Überstunden doch bezahlen«, schlug mein Vater vor.
Die Gelbe Präfektin lachte gehässig, wobei sie nicht einmal in Erwägung zog, dass Dads Vorschlag zum einen ernst gemeint und zum anderen vielleicht gar nicht so unvernünftig war. Die Regeln für den Renteneintritt galten für das gesamte Spektrum: Sobald man mit dem Ablauf des fünfzigsten Lebensjahrs von seiner Verpflichtung gegenüber dem Kollektiv entbunden war, konnte man tun und lassen, was man wollte, zusätzliche Arbeit musste entgolten werden. »Die besten Grauen sind solche«, hatte unser Gelber Präfekt zu Hause mal zu mir gesagt, »die am Morgen ihrer Pensionierung den Mehltau kriegen.«
»Guten Tag, Jane«, wandte sich Dad an die Graue, als er merkte, dass man von Mrs Schwefel keine vernünftigen Auskünfte erwarten konnte. Sein Blick fiel auf die beiden Etiketten »Aufsässig« und »Bösartig« unter Janes Grauem Farbkennzeichen. »Backst du uns bitte ein paar Scones? Die anderen Präfekten müssten jeden Augenblick eintreffen.«
Sie nickte und schickte sich an, in die Küche zu gehen, doch Mrs Schwefel war noch nicht fertig mit ihr.
»Warte, bis man dich entlassen hat, Mädchen«, sagte sie barsch und dann, etwas herzlicher: »Mr Russett, Ihr Sohn behauptet, er habe Jane schon einmal gesehen und dass sie ihm körperliche Gewalt angedroht habe. Ich möchte gerne wissen, ob das sein kann.«
Dad sah mich an, dann Jane, dann wieder Mrs Schwefel. Wenn Gelbe anfangen, Erkundigungen einzuholen, weiß man nie, wo es enden wird. Eine Regelverletzung nicht zu melden war manchmal schlimmer als die Regelverletzung selbst. Aber obwohl sie gedroht hatte, mir den Kiefer zu brechen, wollte ich nicht, dass Jane deswegen Ärger bekam. Nicht bloß Ärger, sie würde massiven Ärger bekommen. Die Androhung eines Angriffs wurde wie ein Angriff selbst behandelt; Absicht und Ausführung waren für die Regeln so gut wie dasselbe.
»Was ist, Eddie?«, fragte mich mein Vater. »Wo hast du sie schon mal gesehen?«
»In Zinnober«, murmelte ich und überlegte fieberhaft, wie ich einen Rückzieher machen konnte, ohne einen Meriten Strafe dafür zu zahlen, dass ich die Zeit eines Präfekten wegen einer fälschlichen Anschuldigung verschwendet hatte. »Heute
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