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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Morgen, kurz bevor wir in den Zug eingestiegen sind.«
    »Dann müssen Sie sich irren«, sagte Mrs Schwefel, und ich sah, wie sich Erleichterung auf Janes Gesicht abzeichnete. »Denn dann wäre sie vor nicht einmal zwei Stunden in Zinnober gewesen, und der Ort ist achtzig Kilometer von hier entfernt. Außerdem hat sie heute Morgen um neun das Frühstück gemacht, Nützliche Arbeit. Das habe ich selbst gesehen. Kann es sein, dass Sie sich getäuscht haben, Master Russett?«
    »Ja«, sagte ich einigermaßen erleichtert. »Es muss jemand anders gewesen sein.«
    »Gut«, sagte Mrs Schwefel. »Du kannst gehen, Mädchen.«
    Jane verzog sich ohne ein Wort in die Küche.
    »Der Oberpräfekt wird sich gleich mit Ihnen befassen«, wandte sich Mrs Schwefel wieder an meinen Vater. »Aber vorher wollte ich Sie bitten, sich vielleicht mal einige Graue anzusehen, die sich angeblich unwohl fühlen. Wenn Sie eine Simulierungsmeldung unterschreiben, könnte ich den arbeitsscheuen Faulpelzen einige Meriten abziehen und sie zur Vernunft bringen. Es dauert nur zehn Minuten.«
    »Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte mein Vater, von der unverhohlenen Abneigung der Gelben Präfektin gegen ihre Arbeitskräfte etwas verstört. Die Gelben waren für die Zuweisung von Beschäftigungen an die Grauen verantwortlich, manche machten ihre Aufgabe gut, andere eher nicht. Mrs Schwefel gehörte eindeutig zur letzten Gruppe.
    Die Haustür schloss sich hinter ihnen, und gemächlich schlenderte ich den Flur entlang zur Küche, wo sich Jane halbherzig ans Werk machte. Ich blieb in der Tür stehen, doch Jane ignorierte mich. Einen Moment lang dachte ich, dass ich mich vielleicht tatsächlich geirrt hatte; kein Mensch konnte an einem einzigen Vormittag hundertfünfzig Kilometer zurücklegen, ohne den Zug zu nehmen. Doch als ich sie jetzt beobachtete, wusste ich, dass ich mich nicht getäuscht hatte, denn in meiner Brust spürte ich dieselbe Spannung wie bei unserer ersten Begegnung. Und dann auch noch diese Nase. Ihre Nase war absolut einzigartig.
    »Wie hast du das geschafft?«, fragte ich sie. »An einem einzigen Vormittag zwischen Ost-Karmin und Zinnober hin- und herzupendeln.«
    »Pendeln?«
    »Ich sammle obsolete Wörter«, versuchte ich sie zu beeindrucken. »Es bedeutet, jeden Tag eine bestimmte Strecke zur Arbeit zurückzulegen, oder so was Ähnliches.«
    »Kennst du den Ausdruck Volltrottel?«
    »Nein, den habe ich noch nicht auf meiner Liste. Was bedeutet es?«
    »Das weiß ich nicht«, antwortete sie, »aber es passt irgendwie zu dir. Ich bin nicht zwischen Ost-Karmin und Zinnober ›hin- und hergependelt‹. Du musst mich mit jemand anderem verwechseln. Hast du gerade auf meine Nase geguckt?«
    »Nein«, log ich.
    »Oh doch, hast du.«
    »Na gut«, räumte ich ein und kam mir mutig vor. »Was ist schon dabei? Eigentlich ist sie ziemlich … «
    »Ich würde meine Pflichten vernachlässigen, wenn ich dich jetzt nicht warnen würde.«
    »Warnen wovor?«
    »Das wirst du merken, wenn du es jemals wagen solltest, in meiner Gegenwart die Wörter Nase und niedlich in einem Atemzug zu nennen.«
    Vielleicht wollte sie mich ja nur auf die Schippe nehmen, jedenfalls lachte ich.
    »Jetzt hab dich doch nicht so, Jane … «
    Sie funkelte mich böse an, und wieder blitzte diese Wut in ihren Augen auf. Jetzt war ich mir sicher. Es war ganz bestimmt dieselbe Person.
    »Habe ich dir erlaubt, meinen Namen in den Mund zu nehmen?«
    »Nein.«
    »Damit das klar ist, Roter: Du und ich, wir haben uns nichts zu sagen. Wir sind uns nie begegnet, und wir haben nichts gemeinsam. Und dabei soll es auch bleiben. In einem Monat fährst du nach Hause in dein Kaff, Polypen-in-der-Nase oder wie auch immer es heißt, Hauptsache, so weit weg von hier wie möglich, am liebsten noch weiter, und kehrst zu deinem jämmerlichen, bemitleidenswert langweiligen Leben zurück. Alles klar?«
    Sie wog das Mehl für das Teegebäck ab, während ich stumm im Raum herumstand und mich fragte, was ich sagen oder tun sollte. Noch nie war mir ein so unverblümter Mensch begegnet. Es war, als redete man mit einem Präfekten, der im Körper einer zwanzigjährigen Grauen steckte.
    »Irgendeine Vorliebe für ein bestimmtes Backfett?«, fragte sie und hielt zwei Näpfe hoch. »Das rein pflanzliche ist teurer, aber der tierische Ersatz könnte Spurenelemente von Dörflern enthalten. Ich weiß ja nicht, wie zartbesaitet ihr Zentrumsbewohner seid.«
    »Wir sind da nicht so empfindlich. Wer war

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