Grau - ein Eddie Russett-Roman
das ganze Dorf beteiligt. Und am Ende jeden Jahres stellen wir die Höhepunkte nach. Manchmal spielen wir sogar die Reenactments nach. Haben Sie nicht etwas vergessen?«
Mir fiel nicht ein, was ich vergessen haben könnte, deswegen zeigte sie auf die Torte mit der Kirsche.
»Das macht eine halbe Merite, bitte.«
Das war ein absurd hoher Preis, selbst für jemanden, der viel Purpur sehen konnte.
»Wenn Sie sich entschließen sollten, sie lieber doch nicht zu essen, würde ich sie Ihnen gerne wieder abkaufen – abzüglich der fünfundsiebzig Cent Bearbeitungsgebühr.«
»Die Torte?«
»Nein, die Kirsche.«
»Kann ich den Kuchen auch ohne Kirsche kaufen?«, fragte ich sie nach kurzer Überlegung.
»Also wirklich!«, sagte sie beleidigt. »Was soll ein Kirschkuchen ohne Kirsche?«
»Gibt es Ärger, Mutter?«
Ein Mann hatte die drei Treppenstufen zur Haustür erklommen. Er trug eine lange Präfektenrobe, deren Farbe reines Magenta gewesen sein musste. Ganz sicher war er der Oberpräfekt. Mittleres Alter, groß, sportlich, wirkte irgendwie leutselig. Hinter ihm waren noch zwei weitere Hellfarbene, Autoritäten durch und durch, wahrscheinlich die anderen Präfekten des Dorfes.
»Mr Russett weigert sich, den Kuchen zu bezahlen, den ich für ihn gebacken habe«, blies sie sich auf.
Der Oberpräfekt musterte mich.
»Sie sind ein bisschen jung für einen Mustermann.«
»Bitte, Sir, ich bin nicht Mr Russett, ich bin sein Sohn.«
»Warum haben Sie sich dann als Mr Russett ausgegeben?«, fragte Witwe von der Malve misstrauisch.
»Habe ich doch gar nicht.«
»Oh«, entfuhr es ihr schockiert. »Dann bin ich also eine Lügnerin?«
»Aber ich … «
»Wollen Sie sich weigern zu zahlen?«, fragte der Oberpräfekt.
»Nein, Sir.«
Ich bezahlte die alte Frau, die sich ins Fäustchen lachte und davoneilte. Oberpräfekt von der Malve – ich nahm an, dass er es war, obwohl er sich nicht vorgestellt hatte und sich einem Jüngeren gegenüber auch nicht vorstellen würde – trat ins Haus und sah mich von oben bis unten an, als wäre ich eine Rindslende.
»Hm«, ließ er sich schließlich vernehmen, »Sie sehen ganz gesund aus. Sind Sie hell?«
Eine zweideutige Frage. › Hell ‹ konnte entweder › intelligent ‹ oder › ausgeprägte Farbwahrnehmung ‹ bedeuten. Die Frage nach der Klugheit war zulässig, die andere Frage nicht. Ich beschloss, Zweideutigkeit mit Zweideutigkeit zu vergelten.
»Ich denke schon, Sir. Darf ich Sie bitten, es sich im Salon bequem zu machen?«
Von der Malve kam in Begleitung des Blauen und Roten Präfekten, Turquoise und Amaranth, wie ich später erfuhr. Turquoise schien mir ganz vernünftig zu sein, Amaranth dagegen wirkte eher dümmlich. Ich geleitete sie zu ihren Plätzen und lief zurück in die Küche.
»Die Präfekten sind da, Ja- … «
Gerade noch rechtzeitig hielt ich mich zurück und fuhr fort: »Wie soll ich dich anreden, wenn ich deinen Namen nicht benutzen darf?«
»Mir wäre es lieber, wenn du überhaupt nicht mit mir sprichst. Aber wenn du auch nur einen Funken Selbstachtung besäßest, würdest du mich trotzdem mit meinem Namen anreden.«
Das war eine Herausforderung. Ich sah mich um, ob irgendwelche scharfen Gegenstände in Griffnähe lagen, entdeckte aber nur einen Schneebesen.
»Also gut, Jane«, sagte ich. »Die Präfekten sind … «
Mir war nicht klar, wie schmerzhaft ein Schneebesen sein konnte, aber es war auch noch nie einer nach mir geworfen worden. Er traf mich etwas oberhalb der Stirn. Hätte ich es drauf ankommen lassen wollen, hätte ihr allein diese Regelwidrigkeit – von der Unverschämtheit, der Respektlosigkeit und den schlechten Manieren ganz zu schweigen – schon fünfzig Demeriten eingebracht und mir bei Meldung des Vergehens eine zehnprozentige Fangprämie.
»Wenn du so weitermachst, bekommst du nie irgendwelche Meriten oder positives Feedback«, sagte ich und rieb mir die Stirn. »Wie willst du es da im Leben zu etwas bringen?«
Sie sah mich nur müde an.
»Hast du überhaupt Meriten oder positives Feedback?«, fragte ich sie.
»Nein.«
»Das ist schlecht.«
Sie fixierte mich mit ihren durchdringenden intelligenten Augen.
»Was gut oder schlecht ist, dafür ist das Regelbuch nicht maßgebend.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte ich, entrüstet über die Vorstellung, es könnte einen höheren Richter über soziales Verhalten als die Regeln geben. »Das Regelbuch sagt uns genau, was richtig und was falsch ist – darum geht es doch. Die
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