Grau - ein Eddie Russett-Roman
formulierten Rücksprung-Verfügung der Personalschlüssel für Bibliotheken unverändert geblieben und würde auch für alle Zeiten unverändert bleiben. Die Bibliotheksleiterin war eine große, herrisch wirkende Frau, die von Kopf bis Fuß in hellem, synthetischem Blau gekleidet war. Ihr Hals war über und über mit Schmuck behängt, und in ihrem üppigen, toupierten weißen Haarschopf steckte bedrohlich schief ein Diadem. Sie hatte sich Ringe um die Augen gemalt, die mit einem Strich quer über den Nasenrücken miteinander verbunden waren. Niemand wusste warum, aber es war das traditionelle Kennzeichen ihres Berufsstandes.
»Ich bin Mrs Lapis-Lazuli«, verkündete sie. Ihre Stimme klang wie verrosteter Draht unter Spannung. »Sie müssen der Sohn des neuen Mustermanns sein. Soviel ich weiß, sind Sie hier, um Stühle zu zählen.«
»Unter anderem.«
»Hm. Sie sollen auf Witwe von der Malves Trick mit dem Kirschkuchen hereingefallen sein, wie ich gehört habe. Hüten Sie sich vor dieser hinterhältigen alten Hexe. Je eher der Mehltau sie holt, desto besser. Haben Sie auch einen Namen?«
»Edward«, sagte ich, unter ihrem Blick schwach geworden. »Eigentlich suche ich die Nachschlagewerke.«
»Nicht auch Belletristik?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Ich deutete mit einer Armbewegung auf die leeren Regale.
»Da komme ich wohl dreihundert Jahre zu spät, bei allem Respekt.«
»Unsinn. Ich werde Sie persönlich durch die Bibliothek führen. Besucher sind heute so selten wie Bücher. Tatsächlich sind die Bibliothekare hier im Vergleich zu den Büchern zahlenmäßig sieben zu eins überlegen – die Nachschlagewerke, die grässlichen Rassigen Romane und Munsells Gesammelte Geistesblitze nicht mitgerechnet.«
Sie brachte mich, dicht gefolgt von den anderen Bibliotheksgehilfen, zum ersten der leeren Regale.
»Ich bin Bibliothekarin in der neunten Generation hier in Ost-Karmin«, ließ sie sich großspurig verlauten. »Bestimmte Informationen sind in den Jahren weitergegeben worden, nur die Bücher nicht.«
Sie zeigte auf ein Regal, und sorgfältig in einer Reihe angeordnet erkannte ich die Schilder mit den verblassten Strichcodes, die ehemals auf den Rücken der jetzt verschwundenen Bücher geklebt hatten. Sie tippte ein Regalbrett an.
»Hier stand mal Lok 1414 geht .«
Sie fiel in Schweigen, und wir standen ehrerbietig da und starrten auf die leere Stelle im Regal.
»Wovon handelte das Buch?«, wollte eine junge Bibliothekarin wissen. Offensichtlich war so eine Führung eine Ehre, die nicht häufig gewährt wurde.
»Es handelte von einer Lok«, sagte Mrs Lapis-Lazuli, »die geht.«
»Wohin denn?«
»Und hier«, fuhr sie unbeirrt fort, packte mich am Ellbogen und zerrte mich zum anderen Ende des Gangs, »standen die Gesammelten Werke von Beatrix Potter. Prüfen Sie mich, wenn Sie mögen.«
Sie kehrte mir den Rücken zu, und auf Drängen der anderen Angestellten suchte ich willkürlich einen Strichcode aus. »Sagen Sie ihn laut an!«, rief Mrs Lapis-Lazuli, noch immer mit dem Rücken zu mir.
»Dünn, dünn, mittel, einfach«, leierte ich die Balkenbreiten herunter, »dick, breit, klein, fett, nominell, nominell, schlank, dünn, mittel … «
» Die Geschichte von Stoff und Kätzchen «, verkündete sie munter. »Stimmt’s?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich einigermaßen verwirrt, da es keinerlei Informationen gab, weder auf dem Strichcode noch im Regal.
»Sechstes Buch von links?«
»Ja.«
Freudestrahlend drehte sie sich um.
»Sehen Sie. Ich weiß, wo jedes einzelne Buch früher in der Bibliothek gestanden hat.« Sie zeigte auf ein Regal gegenüber. »Hier war Catch-22 , ein sehr populäres Angelbuch, ich glaube eine Folge aus einer ganzen Serie.«
Sie huschte zum nächsten Bücherregal.
»Hier war früher die Krimiabteilung.«
Mit einem Finger tippte sie an verschiedene Stellen am Regalbrett und bellte die Titel der Bücher heraus, die längst verschwunden waren.
» Das fehlende Lied in der Kette «, rief sie, » Murdoch im Orient-Espresso, Der gläserne Rüssel, Mrs Schnees Gespür für Smileys, Gurken Park … «
Ich sah zu den Bibliothekarsgehilfen, die sich eifrig zunickten bei dem Versuch, sich das Gesagte einzuprägen, um das Wissen irgendwie zu erhalten und weiterzugeben. Es erschien vollkommen sinnlos, aber irgendwie auch nobel.
»… Die Reigen der Schlemmer «, fuhr sie unbeirrt fort, wobei ihr Zeigefinger immer schneller und wahlloser um das leere Regal herumwanderte. » Das große
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