Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
Vom Netzwerk:
Jane, aber würden es ihr niemals ins Gesicht sagen. Keiner hat so viele Knochen gebrochen wie sie.«
    »Ist sie unfallgefährdet?«
    »Nicht ihre Knochen! Unsere! Jeder, der ihre Nase auch nur mit einem Wort erwähnt, bekommt eins aufs Maul, und Jim-Bob hat sie mal den Arm ausgekugelt, nur weil sie dachte, er würde auf ihre Dingsda gucken.«
    »Und, hat er sie angeguckt?«
    »In diesem speziellen Fall nicht. Aber sie wird uns ja sowieso nicht mehr lange behelligen. Wir wissen nicht genau, wie viele negative Meriten sie angehäuft hat, aber man munkelt von fünfhundert.«
    Ich pfiff leise.
    »Aber sie ist ganz hübsch, findest du nicht?«
    »Ich gebe zu, dass ihre Nase die niedlichste und stupsigste Stupsnase im ganzen Dorf ist«, sagte Tommo. »Aber hübsch? Ich weiß nicht. Eine Kreuzotter ist auch hübsch. Wenn man mit ihr knutschen will, beißt sie einen ins Gesicht.«
    Der ausgetretene Pfad über das holprige Grasland führte uns an einer der vielen alten Straßenlaternen vorbei, die noch standen.
    »Wird regelmäßig jedes Jahr neu gestrichen«, sagte Tommo stolz und blieb einen Moment bewundernd vor dem schmiedeeisernen Laternenpfahl stehen. »Einmal musste der Werkmeister wegen neuer Kupplungsbelege für den Ford nach Zinnober fahren und hat Jabez und mich mitgenommen. Unterwegs kommt man durch eine Stadt, die längst untergegangen ist, aber die Straßenlaternen sind noch da, stehen nebeneinander in langen Reihen, die kreuz und quer über das Gelände verlaufen, mitten auf offenem Weideland, wie verkümmerte Eichen.«
    »Schafft man es an einem Tag nach Zinnober hin und zurück?«, fragte ich. Ich musste noch immer an Janes angeblich unmögliche Reise denken.
    »Mit dem Ford könnte man es schaffen.«
    »Aber ist es praktikabel?«
    »Nein. Denn erstens behandelt Carlos, unser Werkmeister, das Model T besser als seine eigene Tochter, und jeder Tropfen Benzin muss genau protokolliert und gerechtfertigt werden. Mit einem Hochrad könnte man es schaffen, aber über die zehn Kilometer Holperstrecke zwischen Rostberg und Persimone müsste man es schieben. Außerdem müsste man mit der Fähre übersetzen, ohne Transitpapiere. Glaub mir, wenn es eine Möglichkeit gäbe, ich wäre der Erste, der sie ausprobierte. Ich hätte viele Gründe, nach Zinnober zu fahren, und alle wären höchst lohnend.«
    Er legte den Kopf schief und musterte mich für einen Moment.
    »Heckst du gerade etwas aus, oder überlegst du dir nur einen Plan B, falls du deine offene Rückfahrkarte nicht wiederbekommst?«
    »Letzteres«, antwortete ich, und er nickte wissend.
    Der Sortierpavillon war wie eine Miniaturausgabe des Rathauses, mit vier kleineren, schmaleren Säulen, die das Dach über dem Haupteingang stützten. Er sah aus, als wäre er sehr viel älter als die meisten anderen Gebäude. Das Mauerwerk bröckelte, und die winterlichen Niederschläge von Jahren hatten den Mörtel von den Wänden gespült. Das Tympanon über der Tür enthielt eine Marmorskulptur einer liegenden Frau. Sie musste irgendwann aus dem Erdboden geborgen worden sein, denn vom Bauchnabel an aufwärts waren alle Feinheiten des Kunsthandwerks durch die Witterung verwischt, unterhalb jedoch jeder Muskel und jede Sehne fein herausgearbeitet. Ihre Gesichtszüge waren fast gänzlich erloschen, aber die Frau musste einmal sehr schön gewesen sein. Warum sonst hätte jemand so viel Zeit und Mühe auf dieses Denkmal verwendet?
    Der Pavillon hatte ein bogenförmiges Glasdach, das gleich drei Heliostaten aufwies. Draußen stand eine Sackkarre, mit der die Beutel sortierter Farbreste zur nächsten Bahnstation transportiert wurden. Wir setzten uns auf die Eichenbank vor dem Eingang und zogen unsere Schuhe aus. Ich wusste, was das Protokoll verlangte, obwohl wir in Jade-unter-der-Limone gar keinen Pavillon hatten; unser Farbwertgutmaterial wurde in Vividian sortiert, dem nächsten Haltepunkt auf der Bahnstrecke.
    »Schon mal in einem Pavillon gewesen?«, fragte Tommo.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ha, und wir sind die Landeier, was?«, sagte er freundlich und stieß die Tür auf.
    Der Sortierraum des Pavillons war lang, hoch und so gut ausgeleuchtet, dass es tatsächlich heller war als draußen, und darauf kam es an. Um Farben zu erkennen, braucht man viel Licht, und vermutlich wurde die Arbeit eingestellt, wenn der Himmel bedeckt war. Tommo lenkte meinen Blick auf einen Mann, nur wenige Jahre älter als ich, der von Kopf bis Fuß in einer gelben Montur steckte. Er war der

Weitere Kostenlose Bücher