Grau - ein Eddie Russett-Roman
erklären müsste, was Rot tatsächlich ist.
Mittlerweile hatten wir schon geraume Zeit so vor dem Rathaus gestanden und beschlossen, lieber weiterzugehen, bevor noch ein Präfekt oder Aufseher vorbeikam.
»Wohnt deine Familie schon lange hier?«, fragte ich Tommo.
»Ich bin vor einem Jahr hierhergezogen. Ich stamme aus einem nicht ganz so bekannten Zweig der Foxes. Wir sind Ladenbesitzer. Sogar ganz geschickte. Unser Co-op im Roten Sektor Ost fuhr den höchsten Gewinn des ganzen Sektors ein.«
»Warum bist du dann hier?«
» ZPE .«
»Die Zentrale Personenerfassung hat dich hergeschickt?«
»Nein. ZPE ist mein Coup: zwei zum Preis von einem. Der Rat hat Anstoß an meinen aggressiven Verkaufsmethoden genommen. Die Kampagne ›Eine Woche lang jeden Tag einen Kessel umsonst‹kam nicht gerade gut an.«
»Du hättest sie als Standardvariable eintragen lassen sollen. Dann wärst du abgesichert gewesen«, ließ ich den Bescheidwisser heraushängen, obwohl ich diese Methode selbst gerade erst von Travis gelernt hatte.
»So schlau bin ich jetzt auch.«
»Warum eigentlich ›zwei zum Preis von einem‹? Warum die Ware nicht gleich zum halben Preis anbieten?«
»Was wäre dir lieber«, gab er zurück. »Zum halben Preis oder umsonst?«
»Ist doch dasselbe.«
»Ja und nein«, antwortete er grinsend. »Verkaufen ist eine Wissenschaft. Der Rat ist der Meinung, ich hätte die Regeln missachtet, weil ich mir Geheimwissen zu eigen gemacht hätte. Ich bekam dreißig Meriten Strafe und wurde hierherbeordert, um die Floon-Käfer-Abwanderung zu untersuchen.«
»Hat von der Malve dir deine offene Rückfahrkarte auch abgenommen?«
»Nein. Verloren auf der Gute-Laune-Messe. Ich hatte auf einen todsicheren Kandidaten gesetzt, der als Dritter einlief. Ich habe schon versucht, mir den Rückweg freizukaufen, aber es ist gar nicht so einfach. Wenn ich ehrlich sein soll, mein Konto ist unter null.«
Woanders wären negative Meriten als zutiefst beschämend angesehen worden, doch Tommo schien sein Urteil, das offensichtlich kurz bevorstehende Reboot, sogar mit Stolz zu tragen.
»Ärgert es dich denn gar nicht, dass du zum Reboot geschickt wirst?«
»Sollte es mich ärgern?«
»Natürlich.«
Er klopfte mir auf die Schulter.
»Mach dir mal keine Sorgen, Eddie. Bis Montag wird mir schon noch was einfallen.«
Am Sonntag würde er seinen Ishihara ablegen, so wie Jane. In Jade-unter-der-Limone hatten wir bis zu unserem Ishihara noch acht Wochen Zeit. Da wir so ungezwungen miteinander plauderten, rang ich mich dazu durch, ihm eine etwas delikate Frage zu stellen.
»Wie viele Meriten bist du denn im Minus?«
»Ich glaube, so um die hundert«, sagte er lachend. »Aber von der Malve hat gesagt, es würden fünf Meriten für mich herausspringen, wenn ich dir das Dorf zeige – solange ich dich nicht zu irgendwelchen Tommo-Teufeleien verführe.«
»Da bin ich aber erleichtert.«
»Nicht nötig. Tommo-Teufeleien sind qualitativ hochwertig. Willst du deine offene Rückfahrkarte verkaufen?«
»Womit willst du die denn bezahlen?«
»Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Ich bin nur knapp an notierten Meriten. Bare Meriten sind eine ganz andere Kiste.«
Er verdiente sich seine Meriten also auf dem Beigemarkt. Trotzdem, das Bargeld würde ihm im Reboot auch nicht viel nützen, selbst wenn er reicher als Josiah Oxblood wäre. Man durfte auch kein Bargeld zum Reboot mitnehmen, nur einen Löffel. Einen guten Löffel, manchmal sogar zwei. Die Förderlehrer ließen sich damit gerne die Gewährung von Privilegien bezahlen, hieß es.
»Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie dir nicht verkaufen. Ich habe sie von der Malve zur Aufbewahrung überlassen.«
»Das war keine gute Idee.«
»Nein?«
»Ganz bestimmt nicht. Von der Malve ist ein knallharter Geschäftsmann. Wahrscheinlich müsste ich ihm doppelt so viel dafür bezahlen wie dir.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Ja, klar ist das ein Witz«, sagte er wie jemand, der es nicht so meinte. »Ich zeige dir mal, was wir hier für eine Farbvielfalt haben.«
Wir bewegten uns auf den östlichen Rand des Marktplatzes zu, wo sich ein Senkgarten befand, etwa so groß wie ein Tennisplatz, umgeben von einer Mauer, gerade hoch genug zum Draufsitzen. Es war der einzige ColorGarten von Ost-Karmin, und er bot einen jämmerlichen Anblick. Das Gras hatte eine dunkelgrüne Farbe, und die Blumen zeigten alle stumpfen Varianten von Blau und Gelb. Große, wie Zahnpastatuben geformte Farbminen versorgten
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