Grau - ein Eddie Russett-Roman
Schaf, Rotenmontag, In einem anderen Luch, Sämtliche Werke von Schiel Locke Holms . Sind Sie beeindruckt, Master Edward?«
»Sehr«, antwortete ich.
»Die hat mir mein Vater beigebracht. Und mein Vater hat sie von seiner Mutter. Und die hat sie von ihrem Vater – und so weiter und so weiter. Verstehen Sie jetzt?«
»Ja.«
Sie hielt inne, und ein verträumter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
»All diese Wörter«, raunte sie, »erst gewissenhaft zusammengestellt und dann sinnlos auseinandergerissen.«
Urplötzlich überkam sie tiefe Traurigkeit, und sie schwieg minutenlang, bevor sie sich mit einem mutlosen Lächeln mir zuwandte.
»Warum sind Sie überhaupt hergekommen?«
Ich musste erst kurz überlegen.
»Wegen der Nachschlagewerke.«
»Ach ja, natürlich! Hannah bringt Sie zu dem Stuhl da drüben, und Gerrard begleitet Sie weiter zur Treppe. Silas holt Sie am Fuß der Treppe ab und führt Sie zur Abteilung Allgemeine Belletristik. Nancy wird Ihnen dort die Abteilung Nachschlagewerke zeigen. Cath wird die Risikoeinschätzung übernehmen.«
»Und was mache ich?«, fragte Terri, als alle anderen eilfertig an ihre Plätze gingen, um mir verteilt über die knapp zehn Meter zu den Nachschlagewerken ihre Hilfe angedeihen zu lassen.
»Sie dürfen dem jungen Mann dabei helfen, das richtige Buch auszuwählen.«
Terri bekam große Augen und hüpfte vor Aufregung auf und ab; ihre Kollegen grummelten neidvoll.
Nachdem Mrs Lapis-Lazuli ihr ruheloses Durchwandern der Bibliothek wieder aufgenommen hatte, wurde ich fachmännisch zur Abteilung der Nachschlagewerke geführt. Ich bat um das Bewohner-Manifest , und Terri gehorchte. Die anderen sahen uns von der Tür aus zu.
»Was suchen Sie?«, fragte sie.
»Ein Freund hat mich gebeten, einige Verwandte ausfindig zu machen, die hier in der Gegend wohnen«, log ich und schlug wahllos einige Bücher auf, um meine wahre Absicht zu vertuschen. Dennoch fand ich recht schnell, wonach ich suchte. Die Postleitzahl auf der Rückseite des Löffels, den wir bei dem Grauen Falschgekennzeichneten gefunden hatten, lautete LD 2 5 TZ , und den Unterlagen nach gehörte sie einem vierjährigen Grauen, der hier in Ost-Karmin lebte. Das war gar nicht möglich, Postleitzahlen wurden erst nach dem Tod des alten Inhabers wieder neu vergeben.
»Haben Sie auch die historischen Dokumente?«, fragte ich, was bei Terri einen Freudenjuchzer hervorrief. Sie verschwand für einen Moment und kehrte mit einem zweiten Band zurück, der noch lädierter war als der erste. In diesem Band schließlich fand ich die gewünschte Information. Meine Aufgabe war damit erledigt, ich bedankte mich bei den Bibliothekaren, füllte das Feedback-Formular aus und wurde so arbeitsintensiv wie beim Empfang zur Tür begleitet.
Draußen auf der Treppe wartete Tommo auf mich. »Bist du mit unserem Bücherwurm klargekommen?«, fragte er.
»Sie ist ein bisschen heftig, oder?«
»Hunde, die bellen, beißen nicht. Sie hat zwar den Posten als Stellvertretende Blaue Präfektin, ist aber nicht abgeneigt, die Regeln auch mal großzügig auszulegen, wenn man eine gute Geschichte hat.«
»Wie meinst du das?«
»Du wirst es schon merken, wenn du eine Antenne dafür hast.« Er deutete mit einem Kopfnicken zur Bibliothek. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
»Eigentlich nicht, nein.«
Genau genommen stimmte das nicht, das heißt, es stimmte überhaupt nicht. Vor dem Vierjährigen war ein Mann aus Rostberg Inhaber der Postleitzahl LD2 5TZ gewesen, jener verlassenen Stadt, durch die wir auf unserer Reise hierher mit dem Zug gerattert waren. Der Mann wäre jetzt achtundsechzig Jahre alt, was ziemlich genau dem Alter des Grauen Falschgekennzeichneten entsprochen hätte. Sein Name war Zane G49, und nach Aktenlage war er vier Jahre zuvor bei der Mehltau-Epidemie in Rostberg ums Leben gekommen. Zwei Menschen hatten sich ein und dieselbe Postleitzahl geteilt. Undenkbar, diese Vorstellung. Die endliche Menge an Postleitzahlen hielt die Population des Kollektivs auf einem erträglichen Maß. Einer rein, einer raus, so funktionierte das Prinzip. Zwei Personen, die sich eine Zahl teilten, damit war das Kollektiv technisch gesehen überbevölkert, etwas Abscheuliches in den Augen der Regeln. Aber es sagte mir noch nicht, was der Mann in dem Farbengeschäft zu suchen gehabt hatte, und auch nicht, wie Jane mit der Sache zusammenhing. Ich war noch genauso unwissend wie heute Morgen beim Aufwachen.
Schweigend zogen wir weiter, bis Tommo
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