Grau - ein Eddie Russett-Roman
ganz so schlimm ist es auch wieder nicht, da die Schimmelköpfe eigentlich gar nicht mit uns reden.«
»Seid ihr ans Versorgungsnetz angeschlossen?«
Ich nickte.
»Mit der kompletten CMYK -Farbmischung, bei einem Druck von sechsundzwanzig Pfund. Wir kriegen die meisten Farben auf der Skala, mit etwa sechzig Prozent Sättigung und Helligkeit.«
Tommo pfiff anerkennend.
»Ich wünschte, das hätten wir hier auch.«
»So schlimm sieht Ost-Karmin doch gar nicht aus«, wagte ich zu behaupten, als wir unter den geschrubbten Kolonaden des Marktplatzes hergingen, vorbei an dem zentralen Laternenmast und der überlebensgroßen Bronzestatue von Unserem Munsell, der väterlich auf Ost-Karmin herabblickte, die Stirn gerunzelt, als wäre er bis in alle Ewigkeit in Gedanken versunken. »Es ist ja nicht so, als müsstet ihr ganz ohne Farbe auskommen.«
Wir waren vor dem Rathaus, das in einem sanften Grünton gestrichen war, stehengeblieben. Eine Steintreppe mit abgetretenen Stufen führte zu einer Art Portikus, von dem sechs kannelierte Säulen aufragten, die hoch oben ein dreieckiges Tympanon stützten. In den Kalkstein gemeißelt war das Credo des Kollektivs: Getrennt sind wir vereint. Das massive Eingangsportal war übermannshoch, und zu beiden Seiten befanden sich Abgangs-Tafeln aus verblichenem Holz mit den Namen ehemaliger Bewohner, die sich auf irgendeinem Gebiet hervorgetan hatten: Tracy Pfirsich, die freundlich und zuvorkommend war und uns viel zu früh verlassen hat – 23. Dezember 00 207, oder Olive Olive, die mit sechs Melonen jonglieren und gleichzeitig auf dem Einrad fahren konnte – 12. August 00 450. Es gab sogar einen Eintrag für Robin Ocker, die Farbe war noch frisch: Robin Ocker, ein guter Mustermann, der den Mehltau in Schach hielt und uns alle geschützt hat – 16. Juni 00 496. Die Liste folgte einer Rangordnung, je nachdem wie Wertvoll der jeweilige Namensträger gewesen war – Extrem, Sehr, Größtenteils, Teilweise. Die Einordnung wurde durch das äußerst ungewöhnliche Verfahren einer Befragung der Bewohner ermittelt, die auf Zetteln ihre Wahl ankreuzen konnten.
»Zum Glück haben sie es damals noch rechtzeitig angestrichen«, sagte Tommo und zeigte auf das Rathaus. »Diese blöde Knisterfalle hat uns so gut wie ruiniert. Es wird Jahre dauern, bis wir uns einen neuen Anstrich leisten können. Und einen Anschluss ans Versorgungsnetz – den können wir vergessen.«
»Wirklich? Ich habe gehört, die Randzonen wären voll von unerschlossenen Farbrestevorkommen.«
»Ja«, sagte Tommo sarkastisch, »wie du siehst, sind die Straßen hier gelb gepflastert. Ich muss dir leider sagen, das ist alles dummes Geschwätz. Im Süden waren die Einstigen immer zahlreicher vertreten – hier hingegen, da gibt es Stellen, ich glaube, da hat nie ein Einstiger gelebt. Außerdem ist die Umgebung hier so ziemlich abgegrast.«
Es war ein Problem, das zunehmend häufiger auftrat. Die Distribution von synthetischen Farbtönen wurde von NationalColor streng kontrolliert, und es gab nur eine einzige Möglichkeit, sich Farbe selbst zu beschaffen: durch Einsammeln von Farbresten, die zu Rohpigmenten recycelt wurden. Eine Tonne roten Wertguts ergab etwa fünf Liter Univisuelles Pigment. Das reichte, um dreihundert Rosen ein halbes Jahr mit Vollfarbe auszustatten oder ein ganzes Jahr mit Halbfarbe. Manche Dörfer nutzten jede Lichtstunde zum Sammeln von Farbresten, was manchmal sogar dazu führte, dass die Grundnahrungsmittelproduktion zu kurz kam. Farbe und der Genuss von Farbe waren das Ein und Alles.
»Die Linoleumfabrik wirft doch sicher auch einige Meriten ab, oder?«, fragte ich.
»Wir verkaufen das Linoleum zu einem Zehntel des Preises, den es vor zweihundert Jahren gekostet hat. Der Rat hat die Zentrale ersucht, die Produktion herunterzufahren oder die Genehmigung zu erteilen, Linoleum als Dachziegeln zu verwenden. Für Kleidung am Körper ist es ein bisschen zu hart.«
»Das habe ich auch schon gehört.«
Wir starrten noch immer auf den sanften olivfarbenen Anstrich des Rathauses.
»Glaubst du, dass das wirklich Grün ist?«, fragte Tommo.
»Keine Ahnung«, antwortete ich. Niemand vermochte zu erklären, warum wir ein Univisuelles Grün sehen können, Echtes Grün aber nicht. Farbe an sich hat keine Farbe, es ist nur eine Hilfskonstruktion des Verstandes, eine Empfindung, so wie der Summchor aus Butterfly oder der Geruch des Geißblatts. Ich wusste, wie Rot aussieht, aber ich käme in Verlegenheit, wenn ich
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