Grau - ein Eddie Russett-Roman
die Finger von ihr, falls du Wert auf meinen Rat legst.« Er lachte verschwörerisch. »Und wenn wir schon von dunklen Geheimnissen reden: Jabez ist ein Kind der Liebe. Seine Eltern haben geheiratet, weil – halt dich fest! – sie es ohne einander nicht ausgehalten hätten . Irre, was?«
»Dafür brauche ich mich nicht zu schämen«, entgegnete Jabez mit großer Würde. »Und jetzt sage ich dir etwas, worüber du mal in einer stillen Stunde nachdenken kannst: Wenn du einen Orangenen oder einen Grünen triffst, hast du keine vergeudete Primärfarbe vor dir, sondern das Produkt eines Paares, das edlere Ziele verfolgt hat als chromatischen Aufstieg um jeden Preis.«
So hatte ich es bisher noch nie gesehen. Wir Russetts versuchten seit über einem Jahrhundert, unseren Farbverlust aufzuholen. Die eheliche Verbindung mit einer Oxblood-Roten würde uns endlich auf den Stand zurückbringen, den wir bereits erreicht hatten, bevor mein Urgroßvater eine Graue heiratete. Rot war mein Schicksal, wenn man so will – der Farbton, für den ich geboren war.
»Wenn wir schon so offen miteinander umgehen«, heizte Jabez die Stimmung noch ein bisschen auf, »dann kannst du Eddie ja vielleicht auch verraten, warum du dir so gerne Nacktbadende anguckst.«
»Das ist niederträchtig. Und es ist die Unwahrheit!«, wehrte sich Tommo. »Ich habe sie mir nicht angeguckt, ich hatte nur mit offenen Augen geschlafen, und sie sind zufällig vorbeigekommen.«
Es entstand eine Pause. Ich hatte kein Gespür dafür, wie man ein Gespräch mit einem Grünen führte, deswegen sagte ich das Erstbeste, was mir in den Sinn kam.
»Wie ist es denn so, wenn man alles Grüne sieht?«
»Es ist ganz einfach wunderschön. Das Gras, die Blätter, die jungen Triebe, die Bäume – alles unser. Und weißt du was? Die feinen Abstufungen der einzelnen Schattierungen, bei den Blättern vom hellsten, frischen Farbton, wenn sie sich entfalten, bis hin zum dunklen Grün im Spätsommer, bevor sie sich verfärben und wir sie aus den Augen verlieren, das sind Tausende Farben, wenn nicht Millionen. Manchmal setze ich mich einfach in den Wald und schaue nur.«
»Ja, das macht er wirklich«, unterbrach Tommo. »Ich habe es selbst gesehen. Trotzdem. Ich würde meine Rottöne niemals gegen seine Grüntöne eintauschen, nicht für tausend Meriten. Tommo will nicht bei vollem Bewusstsein von der Fäulnis dahingerafft werden. Ich nicht.«
Das war die Kehrseite der Farbe der Natur. Wenn einen der Mehltau holte, nützte einem das Grüne Zimmer gar nichts, auch nicht mit Distributorbrille. Als Grüner ging man den beschwerlicheren Weg: bei vollem Bewusstsein langsam ersticken, während die Sporen unerbittlich die Atemwege verstopften. Um ihren Abgang zu beschleunigen, nahmen einige Grüne die Sache daher lieber selbst in die Hand oder bildeten ein Selbsthilfekartell, was natürlich ein schwerer Regelverstoß war.
»Das ist der Unterschied zwischen dir und mir«, entgegnete Jabez und sah Tommo lachend an. »Ein Leben lang die volle, reiche Farbe der Natur im Tausch gegen fünf Stunden Leid? Da gewinnt jedes Mal haushoch der Wald.«
»Das gilt nicht für mich«, sagte Tommo munter. »Sobald die Sporen anfangen zu keimen, springe ich so schnell in die endorphine Suppe, dass mir nicht mal mehr Zeit bleibt für ein herzliches ›danke, Leute, es war echt beschissen mit euch‹.«
Jabez wurde unruhig; es war höchste Zeit, zu gehen, bevor Tommo noch ausfälliger wurde.
»Herzlich willkommen in unserem Dorf, Eddie. Und von dem, was dir unser wandelnder Reboot erzählt, beherzige nur jedes zehnte Wort. Freundschaft?«
Ich zögerte eine Millisekunde. Das Freundschaftsangebot eines Grünen hatte ich noch nie angenommen; außer den zwölf Orangenen, sechs Blauen, Bertie Magenta und seit kurzem auch Travis waren alle meine vierhundertsechsunddreißig Freunde Rote.
»Freundschaft.«
Er stieß Tommo gutmütig in die Seite und verschwand.
Wir gingen eine kopfsteingepflasterte Straße entlang, die von verschiedenen Geschäften von unterschiedlichem Nutzen gesäumt war. Es gab einen Schneider, einen Haushaltswarenladen, einen Ausbesserer, Dorians Fotografisches Atelier, ein Geschäft, das Wolle und Kurzwaren anbot, und einen von der Zentrale anerkannten Gabelschmied. Tommo machte mich auf interessante, wichtige Personen aufmerksam und stellte sie mir kurz vor, wenn er es für angebracht hielt.
»Die da drüben ist Bunty McMostrich, die schlimmste Giftspritze im Dorf.«
»Ich habe
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