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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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mich erst noch gewöhnen. Es war nicht nur Schnoddrigkeit, er kompromittierte auch andere Leute wegen ihrer Farbwahrnehmung, was der Inbegriff schlechter Manieren war.
    »Woher wusstest du, dass ich meine eigene Großmutter verkauft habe?«
    »Wusste ich nicht. Das sollte ein Witz sein!«
    »Ach so. Sag mal, kannst du mir Herrenfreizeitschuhe mitbringen, wenn du nach Rostberg fährst?«
    Er zeigte mir seine Schuhe, die eigentlich gar keine richtigen Schuhe waren, sondern gewichste, um die Füße gebundene Lederfetzen.
    »In Ordnung.«
    »Größe zweiundvierzig.«
    »Größe zweiundvierzig, alles klar.«
    »Siehst du den Kerl da vorne?«
    Er zeigte auf einen hübschen Mann, vermutlich Anfang dreißig.
    »Das ist Ben Azzuro. Netter Kerl und ein feiner Allroundsportler, aber als er sich erklärte, stand der Hühnerstall kopf, verständlicherweise. Ich persönlich fände es gut, wenn es hier bei uns mehr Leute wie ihn gäbe.«
    »Hast du vor, dich zu erklären?«
    »Nein. Aber es würde den Heiratsmarkt zu meinen Gunsten verschieben. Wenn noch sechs Leute mehr ans andere Ufer wechseln, kriege ich am Ende möglicherweise doch noch jemand ganz Erfreuliches ab. Vielleicht überrascht es dich ja, aber ich gelte hier nicht unbedingt als gute Partie.«
    »Ach nein! Tatsächlich?«
    »Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen, Freundchen. Das da drüben ist übrigens die örtliche Futterkrippe. Die Frau hinter der Theke heißt Mrs Karmesin.«
    Er wies auf die Teestube, wo in jedem Dorf um diese Zeit viel Betrieb herrschte. Der Name des Etablissements lautete Zum gefallenen Mann, sehr ungewöhnlich, weil die meisten Teestuben Mrs Cranston’s hießen. Ich sah mir das verblichene, fast monochrome Schild über dem Eingang an. Es stellte einen Mann in einem Ledersessel dar, der zwischen flauschigen Wolken hindurch abwärts segelt, die Krawatte im Fahrtwind aufwärts flatternd.
    »Komischer Name«, sagte ich, auf das gemalte Schild zeigend.
    »Für unsere Verhältnisse nicht«, entgegnete Tommo fröhlich. »Die andere Teestube heißt Der singende Kleiderbügel. Beide Namen beziehen sich auf lokale Legenden: Der Gefallene auf einen Mann, der hier in der Nähe auf die Erde niedergegangen ist, und Der singende Kleiderbügel auf einen, na ja, auf einen Bügel, der anfing zu singen.«
    Ich hatte schon davon gehört, dass Metallstücke plötzlich Geräusche von sich gaben, die wie Wörter oder Melodien klangen, aber persönlich war mir dieses Phänomen noch nie begegnet.
    »Singende Drähte und gefallene Männer, mehr haben wir an Legenden nicht zu bieten«, ergänzte Tommo. »Und ihr?«
    »Wir haben die Schlabber-Venus«, antwortete ich. »Aber das ist, ehrlich gesagt, eher Artifaktur als Folklore. Die Nacht des Großen Lärms hat es allerdings wirklich gegeben. Die Älteren erzählen heute noch, dass am nächsten Morgen alles mit so einer Art Spinnweben überzogen war und dass die Leitern im Dorf fehlten.«
    »Entschuldige, dass ich gefragt habe«, sagte er. »Das ist übrigens«, fuhr er fort und deutete im Vorbeigehen auf eine junge Frau, »Daisy Karmesin. Nettes Mädchen aus guter Familie, wenn auch etwas niederfarbwertig. Ihr Vater betreibt die Wärmeaustauscher des Dorfes. Manche sagen, Daisy kichert zu viel und ihre Nase sei ein kleines bisschen zu spitz, aber mich hat das nie gestört und, wenn wir schon dabei sind, sie auch nicht.«
    Wir waren am Flakturm angekommen, der ganz und gar typisch in seiner Konstruktion war. Quadratischer Grundriss, der sich nach oben leicht verjüngte und aus dessen Dachecken flache, lappenartige Vorsprünge ragten. Die Bronzetüren waren schon vor langer Zeit zur Altmetallverwertung entfernt worden, Perpetulit hatte sich ungehindert über der Öffnung ausgebreitet und nur noch eine vertikale Spalte und eine leichte Delle übriggelassen. Aber in ein paar hundert Jahren wären selbst die nicht mehr da.
    Tommo trat vor eine Wand, in die eine Reihe Bronzehaken eingeschlagen war. So waren die Knisterfallenbauer also aufs Dach gelangt. In eine ehemalige Fensterluke in Brusthöhe hatte jemand ein etwa armdickes Metallrohr gesteckt. Tommo legte ein paar Sandwiches hinein, dazu einen Apfel, was ich mit einiger Verwirrung beobachtete.
    »Für Ulrika von der Flak«, erklärte er. »Ich glaube, sie ist Gesindel.«
    »Du meinst, da drin ist … ?«
    »Psst!«, sagte er. »Erschreck sie nicht.«
    Als er fertig war, gab er mir mit einem Wink zu verstehen, ich solle verschwinden, und sagte, auf meinen zweifellos

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