Grau - ein Eddie Russett-Roman
mich Carlos Fandango morgen früh hin.« Er wandte sich an die Blaue, die abwesend aus dem Fenster blickte. »Ich muss die beiden Finger nähen.«
»Den kleinen brauche ich sowieso nicht«, sagte sie. »Und draußen sitzen noch jede Menge andere Leute, die zu Ihnen wollen.«
»Die können warten.«
»Dad«, sagte ich. »Darf ich mitfahren nach Rostberg?«
»Unmöglich«, erwiderte er umgehend. »Der Rat hat sich ja schon schwer damit getan, mir eine Reiseerlaubnis nach Rostberg zu erteilen. Die Ratsmitglieder haben es damit gerechtfertigt, dass das Leben im Dorf stillstehen würde, wenn die Arbeitskräfte mit Schnupfen daniederliegen. Fandango fährt mich hin, aber er hat strikte Anweisung, den Ort nicht zu betreten.«
»Es ist gerade mal vier Jahre her, dass der Mehltau in dem Dorf gewütet hat«, ergänzte das Blaue Mädchen, das unser Gespräch mit Interesse verfolgt hatte. »Und eigentlich dürfte noch mindestens sechzehn Jahre niemand den Ort betreten.«
»Also noch ein guter Grund, nicht hinzufahren«, sagte mein Vater. »Kannst du bitte mal die Schwester rufen? Ich brauche zwei weitere Hände, wenn ich vor dem Abendessen wenigstens noch ein paar Patienten drannehmen will.«
Ich drückte auf den Klingelknopf für die Schwester. Sie kam herein, nickte mir zur Begrüßung zu, sah mit einem vorwurfsvollen »na, na!« auf die Hand der Blauen und fädelte gekonnt den Faden in die Nadel.
»Ich mache die Arterien«, sagte Dad zu der Schwester, »wenn Sie die Sehnen übernehmen wollen? Und du, Eddie, notier bitte ›37–78–81‹ in meine Kladde – unter einem stumpfen Orange wachsen Nervenenden besser zusammen. Und mach bitte die Tür zu, wenn du gehst, ja?«
Ich ging zurück ins Wartezimmer, wo mich plötzlich Tollkühnheit packte. Nicht jeder würde meinen Vater heute noch zu sehen bekommen, statt also alle morgen früh stundenlang Schlange stehen zu lassen, damit sie als Erste drankamen, dachte ich mir, könnte ich doch ein bisschen unterstützend eingreifen.
Ich trieb einen Bogen Papier auf, schnitt dreißig spielkartengroße Zettel heraus, versah sie mit Nummern, verteilte sie reihum im Wartezimmer und erklärte den Wartenden, wie das System funktionierte. Sobald mein Vater wieder Patienten empfing, würde eine Nummer ausgehängt, und wenn die eigene Nummer auftauchte, wäre man an der Reihe. »Aber denken Sie daran!«, ermahnte ich sie noch. »Wenn Sie Ihren Aufruf verpassen, müssen Sie eine neue Nummer ziehen.«
Ich musste die Details mehrmals mit ihnen durchgehen, da das Konzept neuartig war, doch nach viel Murren und Protest hatten die Dorfbewohner das Prinzip begriffen, und sehr bald marschierte einer nach dem anderen fort, um etwas anderes zu erledigen oder einfach nach Hause zu gehen. Ich schrieb ein Schild, auf dem neu hinzugekommene Patienten aufgefordert wurden, sich eine Nummer aus einer kleinen Nierenschale aus rostfreiem Stahl zu nehmen, und stellte noch einen Kasten für die gebrauchten Karten auf.
Glücklich und zufrieden, dass der erste praktische Test meines »Russett Mk II Numerischen Warteschlangensystems« auf den Weg gebracht war, verließ ich beschwingten Schrittes das Colorium. Ich ging am Kasten für Verbesserungsvorschläge vorbei und beantragte eine nachträgliche Erlaubnis, das System unter der Prozedur der Standardvariablen zu betreiben, wie Travis es mir empfohlen hatte. Ich hatte keine Zweifel, dass der Rat es ablehnen würde, aber wenigstens war damit meine Regelverletzung gedeckt.
Eine Augenbraue
2.8.02.03.031: Die Benutzung von Fahrrädern jenseits der Außenmarkierungen ist nicht gestattet, da der Metallrahmen Blitze anziehen könnte.
Ich atmete tief durch und setzte mich auf eine Bank, um meine Gedanken zu ordnen. Irgendwie musste es mir gelingen, die alte Adresse von Zane G49 in Rostberg aufzusuchen, wenn ich auch nur annähernd dahinterkommen wollte, was er in dem Farbengeschäft zu suchen gehabt hatte. Doch Dad hatte recht: Um ihn dorthin begleiten zu dürfen, brauchte ich einen triftigen Grund. Rostberg konnte man zu Fuß an einem Tag erreichen, und wenn ich die zehn Meriten Strafe für Abwesenheit beim Mittagessen in Kauf nahm, hätte ich eine Chance. Ich hatte nur keine Lust, fünfundvierzig Kilometer zu laufen, schon gar nicht bei dieser Hitze. Gerade überlegte ich, ob es vielleicht ein Hochrad im Dorf gab, das ich mir ausleihen konnte, da vernahm ich eine Stimme.
»Haben Sie eigentlich ein Hobby?«
Ich blickte auf. Witwe von der Malve saß am
Weitere Kostenlose Bücher