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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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wurde von Everspins angetrieben, die für die Landwirtschaft freigegeben worden waren, vierzigmal so groß wie der, den ich in meinem Koffer aufbewahrte.
    »Mich würde das Verbot von Gangschaltungen an Fahrrädern viel mehr ärgern«, sagte ich, als gerade der letzte Steinbrocken über den Rand kippte und wir wieder losfuhren. »Direktantrieb ist, ehrlich gesagt, nicht so prickelnd.«
    Wir versanken in Schweigen, was mir mittlerweile wieder ganz recht war, denn so konnte ich die unberührte Landschaft genießen. Nach einem langen schnurgeraden Streckenabschnitt kamen wir an den Ruinen einer alten Stadt vorbei, von der nach einer Serie aggressiver Ausgrabungen nur noch grasüberwachsene Trümmer übriggeblieben waren.
    »Das war mal Klein-Karmin«, sagte Fandango, der extra langsamer fuhr, damit wir es sehen konnten. »00453 von allen Farbresten bereinigt. Ungefähr zehn Kilometer von hier liegt Great Auburn, unsere seit beinahe drei Jahrzehnten wichtigste Quelle von Altfarben, aber auch die ist bald erschöpft. Heute konzentrieren sich unsere Wertgutsammeltrupps darauf, einzelne Häuser oder Weiler aufzustöbern. So eine Schwellung im Boden richtig zu deuten erfordert ziemlich viel Geschick.«
    Während der Weiterfahrt setzten Fandango und ich unser Gespräch fort, hauptsächlich ging es um die Wartungsprobleme des Mechanismus der Kohlebogenlampe, der Lichtquelle der zentralen Straßenlampe – offenbar verschlangen sie einen überproportional großen Teil seiner Arbeitskraft. So vertrieben wir uns die Zeit, bis wir an den verlassenen Bahnhof kamen. Am anderen Ufer des Flusses lag Rostberg, unberührt und seit vier Jahren, als der Mehltau alle Bewohner dahingerafft hatte, von keinem Menschen betreten.

Rostberg
    1.1.01.01.001: Jeder soll mit gebührender Rücksicht auf das Wohl der anderen leben und handeln.
    Dad und ich stiegen aus dem Auto, und Fandango sagte uns, er werde oben auf dem Gipfel eines kleinen Hügels auf uns warten, falls der Ford nachher schlecht anspringen sollte. Er wünschte uns viel Glück, und wenn wir abgeholt werden wollten, sollten wir ihm ein Zeichen geben, und falls Schwäne im Anflug wären, würde er zweimal die krächzende Hupe betätigen. Sodann entschwand er in ungebührlicher Eile und hinterließ eine weiße Rauchwolke.
    Dad setzte sich auf eine niedrige Mauer und beobachtete das Dorf durch ein Fernglas. Es war bekannt, dass nomadisches Gesindel aufgegebene Siedlungen gelegentlich als Behausung nutzte, auch wenn es so weit westlich wie hier wenig wahrscheinlich war, doch weder Dad noch ich verspürten auch nur die geringste Lust, auf eine Meute niedergelassener und wehrhafter Wilder zu stoßen. Es kursierten grausige Geschichten über hochfarbwertige Männer, die gekidnappt worden waren und denen man mit der Entfernung der Klöten gedroht hatte, falls das geforderte Lösegeld nicht gezahlt würde. Ich kannte niemanden, der außerhalb der Grenzen sein Farbkennzeichen trug.
    »Dad?«
    »Ja?« Er sah sich immer noch die verlassenen Gebäude an.
    »Ich habe heute Morgen etwas Interessantes erfahren. Lucy Ocker hat ziemlich viel Lincoln geguckt in letzter Zeit. Sie ist sich sicher, dass ihr Vater ermordet wurde.«
    Ich hatte damit gerechnet, dass Dad den Gedanken genauso brüsk abtun würde wie ich, doch ich merkte, dass ihm sofort unbehaglich zumute war.
    »Wie kommt sie denn auf die Idee?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Weiß ich nicht. Warum? Könnte es denn stimmen?«
    »Technisch wäre es möglich. Er könnte an die Abschiedsliege festgebunden gewesen sein, die Augen mit einem Klebeband offen gehalten.«
    »Dann hätte man Spuren an der Leiche finden müssen.«
    »Ja, das gebe ich zu. Es könnte auch so gewesen sein: Angenommen, er hätte vorgehabt, sich Grünes Licht zu geben. Er hätte das Licht, das ins Grüne Zimmer strömt, mit dem Hebel neben der Liege kontrolliert. Er hätte die Fensterläden aufgeklappt, um die volle Wirkung des Süßen Traums abzukriegen, hätte sie dann wieder zugeklappt, wenn es ihm gereicht hätte, hätte sich in der Dunkelheit erholt und wäre aus dem Zimmer geschlichen.«
    »Aber es gibt noch einen zweiten Hebel«, warf ich ein, als ich begriff, worauf er hinauswollte, »draußen.«
    »Genau«, sagte er. »Und die beiden sind miteinander verbunden. Vielleicht hat jemand den Hebel draußen in der geöffneten Position festgehalten.«
    Mir schauderte.
    »Ist das wahrscheinlich?«
    »Nein. Er hätte nur die Augen zu schließen brauchen. Außerdem:

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