Grau - ein Eddie Russett-Roman
in den Schatten gestellt worden, dass meine Verwirrung verständlich war.
Ich kehrte zum Marktplatz zurück, denn ich wollte jetzt nur noch meine Aufgabe erledigen und wieder gehen. Vom Marktplatz bog ich links ab, dann rechts, und schon bald stand ich vor dem Haus, das ich suchte, ein großes, modernes Gebäude in Fachwerkbauweise. Die Haustür war verschlossen, deswegen kletterte ich durch ein zerbrochenes Fenster und tastete mich vor bis zur Küche, fand die Wickelkurbel und drehte sie zehn-, zwanzigmal. Dann gab ich Uhrzeit, Datum und Jahreszahl ein, um den Spiegel im Handbetrieb neu auszurichten. Auf dem Dach war ein Surren zu hören, und kurz darauf strömte Licht ins Innere des Hauses. Jetzt sah ich auch, dass es das Domizil eines wohlhabenden Kaufmanns war, allerdings war das Amt des Kunstwarts auch nicht farbgebunden, einen Caravaggio oder Williams konnte man im Haus eines Grauen genauso gut antreffen wie in dem eines Purpurnen. Ich ging zur Haustür, schob den Riegel zur Seite, um schneller entkommen zu können, falls ein Schwan hier nistete, und ging in die Küche.
Ich durchsuchte die Schubladen, bis ich eine Zuckerwürfelzange für Mrs Blut gefunden hatte, stieg dann die Treppe hoch und zog, auf dem oberen Absatz angekommen, den Messingknauf, um den Spiegel zur Beleuchtung des oberen Stockwerks herumzuschwenken. Zuerst überprüfte ich die Räume nach vorne hinaus, es waren nur Schlafzimmer, das eine war einmal bewohnt gewesen, das andere nicht. Der letzte Ort, der noch zu erkunden war, lag am Ende des kurzen Korridors, und ich brauchte nur den Türknauf zu berühren, da sprang die Tür auf.
Es war ein großer Raum, unmöbliert mit Ausnahme eines einzelnen Sessels und eines schlichten, länglichen Teppichs auf den Eichendielen. Wie in vielen Galerien erfüllte ein sanftes, angenehmes Licht den Raum, das aus einem mit Leinenstoff verhängten Dachfenster kam, perfekt eingestellt, wie für eine Besichtigung. An der Wand gegenüber hing der Caravaggio, und er war in jeder Hinsicht so spektakulär wie die Abbildungen, die ich kannte. Allerdings waren die Abbildungen monochrom, und hier sah ich zum ersten Mal etwas, was ich nicht vermutet hätte: Der Vorhang über der dargestellten Szene, Stirnrunzelndes Mädchen trennt Bärtigem den Kopf ab , war von einem sensationellen Karmesinrot, das zu dem hervorspritzenden Blut aus der Arterie, ebenfalls ein leuchtendes Rot, einen lebhaften Kontrast bildete. Minutenlang stand ich vor der großen Leinwand, sprachlos, überwältigt von dem grandiosen Talent des Malers, den subtilen Feinheiten von Licht und Schatten, und für kurze Zeit hatte ich den Wunsch, mehr Farben sehen zu können als nur Rot.
Ich war nicht der Einzige, der das Gemälde bewunderte. In dem Lehnstuhl saß der ehemalige Kunstwart. Der Teppich unter ihm war von den Säften der Fäulnis schwarz gefleckt, doch der Mann selbst war in dem vor Wind und Wetter schützenden Raum noch nicht vollständig verwest, und dunkle Haut spannte sich über seine Knochen. Die Arme ruhten auf den Lehnen, und auch wenn ihm das Kinn auf die Brust gesackt war, glaube ich, dass er in Betrachtung des Bildes versunken gewesen war, als der Mehltau ihn überwältigte. Er trug ein Rotes Farbkennzeichen sowie eine Präfekten-Marke, und aus seiner verwitterten Kleidung ragte deutlich sichtbar ein schimmernder Löffel hervor. Es war der Beweis, dass nach dem Ausbruch niemand hier gewesen war, und da der Mann keine Verwendung mehr für seinen Löffel hatte, zog ich ihn ihm aus der Tasche und steckte ihn ein.
Ich dachte an die Ermahnung meines Vaters, ich möge mich beeilen, und an die Gefahr, dass vielleicht doch noch aktive Mehltausporen im Raum umherschwirrten, deswegen klappte ich rasch die wetterfeste Kiste auf, befreite das Gemälde aus seinem schweren Schmuckrahmen und legte es auf den Boden. Es war groß, 1,80 m mal 1,20 m, und ich musste den Keilrahmen sehr vorsichtig die schmale Treppe hinuntertragen, um nicht noch irgendwo anzustoßen.
Draußen lehnte ich das Bild an die Hauswand, konsultierte kurz die Straßenkarte und machte mich dann auf den Weg. Die Adresse des Grauen Falschgekennzeichneten war drei Straßen weiter, jetzt war die einzige Gelegenheit, sie zu erkunden.
Ich ging die Hauptstraße entlang, vorbei an noch mehr Schutt, leeren Geschäften und den Überresten einer Bevölkerung, die meinem Eindruck nach erst versucht hatte zu entkommen, aber dann entkräftet aufgab. Gras und Wildblumen keimten in kleinen
Weitere Kostenlose Bücher