Grau - ein Eddie Russett-Roman
Welches Motiv hätte er gehabt? Er war Heiler, und ein sehr guter obendrein. Sieben Jahre ohne einen einzigen Fall von Mehltau. Ich glaube, es war einfach nur ein tragischer Irrtum, als er sich Grünes Licht geben wollte. Aber es wäre doch interessant, zu erfahren, ob Lucy noch mehr Informationen hat. Übrigens«, fügte er noch an, »von der Malve hat mir heute Morgen die Ohren zugetextet.«
»Oh.«
»Er sagte, wenn du den direkten Befehl eines Präfekten noch mal missachtest, würde er uns beide zusammenstauchen.«
»Ja«, sagte ich. »Tut mir leid.«
Wieder betrachtete er das Dorf durch das Fernglas.
»Dad?«
»Ja?«
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass in Rostberg noch Mehltausporen herumfliegen?«
»Sehr gering«, antwortete er. »Eine zwanzigjährige Quarantänezeit ist unnötig lang, aber so lauten nun mal die Regeln.«
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Dorf leer war, steckte er das Fernglas in seine Tasche, und wir passierten das verblichene Quarantäne-Schild und betraten die steinerne Bogenbrücke. In der Mitte war der Perpetulitbelag zersplittert, der Organoplastoid aufgeschnitten worden und mit Bronzestacheln gespickt, um den Mechanismus der Selbstreparatur zu stoppen. Die Methode war grob, aber wirkungsvoll, und die Fahrbahn hatte nur ein paar dunkelgraue Ranken abgestoßen, bevor sie aufgegeben hatte. Wir traten von der glatten Fahrbahn herunter und folgten dem ausgetretenen, mit Steinen gepflasterten Weg ins Dorf. Es war unnatürlich still, und überall gab es Anzeichen einer überstürzten Flucht. Weggeworfene Gegenstände lagen verstreut auf den Straßen, die Geschäfte standen offen, und zerrissene Vorhänge bauschten sich vor geöffneten Fenstern. Zwischen den Pflastersteinen hatte bereits wieder Gras Wurzeln geschlagen. Hier und da stießen wir auch auf Überreste der Verstorbenen, gebleichte Knochen, wie gebettet in verwitterten Kleidungsstücken. Tausendachthundert Opfer, wie man mir gesagt hatte, innerhalb von achtundvierzig Stunden.
Vor dem Colorhydranten des Dorfes blieben wir stehen. Er sah relativ neu aus und überhaupt nicht so wie die Verteilereinheit bei uns zu Hause, die eine Art großer Tannenbaum aus Mehrfachverbindungen zu allen Standorten des Dorfes war. Dieser Hydrant hatte überhaupt keine Anschlüsse; die Farbeinspeiser waren einfache Zwölferrohre mit Gewindekappen und ein paar Druckventilen; der Sperrhahn war abmontiert, um Schaden vorzubeugen. Rostberg hatte erst kurz vor dem Mehltauausbruch Farbe aus dem Versorgungsnetz erhalten. Das Dorf musste jahrelang gearbeitet und gespart und jedes Altfarbrestchen gesammelt haben, um die Nebenleitungsstrecke bewilligt zu bekommen, letztlich umsonst.
»Pass auf dich auf. Wir treffen uns in zwanzig Minuten wieder hier.«
Ich nickte, und wir trennten uns, er ging Richtung Colorium, ich zum Marktplatz. Er lag nur knapp hundert Meter weiter die Straße hinunter und sah ebenso desolat aus wie alles andere hier. Die Markisen vor den Läden waren zerschlissen und verblichen, Knochen lagen verstreut auf den Bodenfliesen der Säulengänge, manche sogar zu Füßen der überlebensgroßen Bronzestatue von Unserem Munsell. Es gab nicht mal ein Colorbeet auf dem Platz, nur einen Brunnen, von Unkraut verstopft, und an der Fassade des Rathauses waren noch letzte blasse Farbrudimente zu erkennen. Der Eingang stand offen, und vorsichtig stapfte ich die Stufen der Steintreppe hinauf und spähte ins Innere. Das Rathaus war größer als das in Ost-Karmin, dafür wirkte es düsterer. Die Federaufzüge an den Motoren der Heliostate waren längst abgelaufen, doch einer der Spiegel war zufällig in der korrekten Position eingerastet, und ein Lichtstrahl fiel schräg auf den Boden. Mir bot sich ein Anblick von solcher Trostlosigkeit, dass meine Augen feucht wurden. Das Holzparkett war bedeckt mit Staub, Zweigen, Vogeldreck, vom Wind angewehtem Schmutz, Kleiderfetzen, Armbanduhren, Haarbändern, Schuhen, Schmuck, vereinzelten Löffeln, Münzen, einigen Gürtelschnallen, doch hauptsächlich mit Knochen. Tausende Knochen, menschliche Knochen, alle Arten und Größen von Knochen. Die meisten waren von Tieren angenagt und zerstreut, aber manche waren noch vollständig erhalten, und als ich zwischen den Mehltautoten umherschritt, stieg der muffige Geruch von Verwesung vom Boden auf. Es gab keine Anzeichen, dass hier Panik ausgebrochen war, nur tiefe Resignation. Die Bewohner von Rostberg hatten gewusst, dass sie dem Untergang geweiht
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