Grau - ein Eddie Russett-Roman
waren, und hatten Trost im Zentrum ihrer Welt gesucht und dort auf das Ende gewartet. Zwischen den Knochen lagen hier und da ausgebreitet ausgebleichte Stücke von Leinentuch, die man offenbar in Eile grün gefärbt hatte und die sich die Kranken weitergereicht hatten, um die Schmerzen zu lindern.
Es überlief mich kalt, und ich wandte mich ab, um meine Aufgabe zu erledigen und die Stadt wieder zu verlassen, die jetzt bedrückend auf mich wirkte – obwohl ich aus Munsells Quietus wusste, dass der Tod nur ein natürlicher Teil des Zyklus der Erneuerung ist und dass man das Leben nicht als Hürdenlauf betrachten soll, bei dem man als Erster das Zielband erreichen muss, sondern vielmehr als einen Staffellauf ohne Ende und mit nur einer Mannschaft.
Als ich mich zum Gehen wandte, sah ich nach oben, und dort, auf das Putzgewölbe aufgetragen, befand sich ein riesiges Wandgemälde mit Darstellungen der Geschichte von Munsells Epiphanie und der Gründung des Kollektivs. Auch wenn ich manches nicht verstand, einige Sequenzen waren unverkennbar, zum Beispiel Die Verteilung der Schätze , Die Vertreibung der Experten und Die Schließung der Netzwerke . Etwas Vergleichbares hatte ich zuvor noch nie gesehen, doch anders als die etwas einfachere Version bei uns zu Hause, mehrfach übermalt, war dieses Deckengemälde unvollendet geblieben. Etwa ein Drittel war nicht ausgemalt, die vielen Umrisszeichnungen, aus denen sich das Bild zusammensetzte, waren leer, die Farbreferenznummern noch sichtbar. Das Dorf hatte einen Anfang gemacht, hatte es aber nicht zu Ende malen können. Die meisten mittleren Blautöne waren aufgetragen, einige Rot- und fast alle Grüntöne. Am interessantesten waren die Falten in Munsells Mantel, denn die dort verwendeten etwa vierzig verschiedenen satten Univisuellen Violetttöne versetzten mich in gespannte Erwartung, als stünde jeden Moment eine wundervolle Offenbarung bevor. Es war nur ein Gefühl, ausgelöst durch die Kombination der Violetttöne, doch noch nie hatte eine Farbe so ein Gefühl in mir freigesetzt.
Mein Mentor, Greg Scarlet, hatte mir erklärt, dass in der Frühgeschichte des Kollektivs große Anstrengungen unternommen worden waren, den bewussten Verstand auszuschalten und Emotionen auf direktem Weg ins Innerste zu leiten – sodass die Essenz eines großen Romans, einer vielschichtigen Symphonie, eines friedlichen Gartens, alles zusammengenommen eine einzige, wahrhaft außergewöhnliche Empfindung ergeben mochte, die allein das abstrakte Produkt des Verstandes gewesen wäre. Daraus hatte sich die Idee des Grünen Zimmers entwickelt und die Chromatikologie, immerhin, doch alle weitere Forschung im Bereich Direkteinspeisung wurde, wie NationalColor später verlauten ließ, zugunsten dringenderer Probleme, zum Beispiel Farbnachschub und dem Nationalen Colorierungsprogramm, eingestellt.
Doch der Blick nach oben zeigte mir, wie das Gemälde funktioniert haben könnte . Die Geschichte von Munsell und seiner Epiphanie war offensichtlich ein dramatisches Märchen, voller großer Taten und persönlicher Opfer. Niemand kannte alle Details, aber darauf kam es auch nicht an. Ein Blick an die Decke hätte alle emotionalen Reaktionen – Freude, Verlust, Niederlage und schließlich Sieg – hervorgerufen, ohne dass man die Geschehnisse im Einzelnen gekannt hätte.
Plötzlich zuckte ich zusammen. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung im Speiseraum wahr. Hinter den Tischen, noch bedeckt mit den Resten der letzten Mahlzeit, stand eine Frau, eine welke Gestalt, sie war immateriell, eigentlich nur eine Impression, ein Glitzern in der Luft. Ich blinzelte mit den Augen, doch der Puka verschwand nicht, und obwohl ich eigentlich erschrocken hätte sein müssen – ich war es nicht. Ich war fasziniert. Ich blinzelte noch mal, und dabei fiel mir etwas Seltsames auf. Die Frau verschwand nicht, wenn ich die Augen schloss, ja, sie erschien mir bei fest geschlossenen Augenlidern sogar noch materieller. Eigentlich war sie überhaupt nicht im Raum, sie war in meinem Kopf.
Ich schlug die Augen wieder auf, um die Frau wenigstens in einem räumlichen Zusammenhang zu sehen. Ihre transparente Gestalt bewegte sich geschickt zwischen all dem Schutt, dabei starrte sie mich unentwegt an. Dann öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, und abrupt verschwand sie von der Bildfläche, und ich war wieder allein. Eilig verließ ich das Rathaus, verwirrt, wenn auch nicht allzu sehr; das Bekannte war so lange vom Unbekannten
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