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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Mulden, in denen sich vom Wind angewehte Erde gesammelt hatte, und Brombeerranken breiteten sich hemmungslos aus. Nach einigem Suchen fand ich schließlich die letzte bekannte Adresse des Grauen Falschgekennzeichneten. Die Haustür sah heruntergekommen und unbenutzt aus, die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Ich war enttäuscht und gleichzeitig ungeheuer erleichtert. Ich war in dieser Sache so weit vorgedrungen wie möglich, jetzt konnte ich loslassen und mich auf andere, gesellschaftlich wichtigere Dinge konzentrieren. Gerade wollte ich loslaufen, zurück zu dem Caravaggio und dann zu der Brücke, wo ich meinen Vater treffen sollte, da fiel mir auf, dass die Fugen zwischen den Pflastersteinen vor der Haustür frei von Unkraut waren. Ich hielt inne, mein Herz raste, und ohne zu überlegen, klopfte ich höflich an die Tür. Als keine Reaktion kam, stieß ich die Tür auf, und es bot sich mir ein Anblick von solcher Erhabenheit, dass es mir den Atem verschlug.

Zane G49
    6.1.02.11.235: Gebrauchsgegenstände aus der Zeit vor Dem Großen Ereignis dürfen gesammelt werden, solange sie nicht auf der Rücksprungliste stehen und eine Farbsättigung von mehr als 29 % aufweisen.
    Ich blickte in das Wohnzimmer eines Hauses, in dem sich kurz zuvor noch jemand aufgehalten haben musste, da der Geruch von Seife und Essen in der Luft hing. Es war ein großer Raum, vollgestellt mit Nippes, Werkzeugen, Farbeimern, ein paar Rassigen Romanen und diversen alten, ausgedienten Gebrauchsgegenständen. Auf der Anrichte eine Schale Äpfel, und von der Decke hingen mehrere geräucherte Aale. Das alles war ungewöhnlich genug, doch das Prachtvollste war etwas ganz anderes. In Regalen, auf Anrichten, von Bilderleisten und an der Wand hängend: Hunderte, vielleicht sogar Tausende Glühbirnen, alle strahlten hell und brachten die Innenbeleuchtung auf Tageslichtniveau. Nachts dürfte hier wohl kaum Finsternis herrschen, und die Angst wäre verbannt. Zane hatte die Glühbirnen vermutlich in der verbotenen Kammer des Stiftshauses entdeckt, denn anders als die meisten Rücksprunggüter waren sie zu brisant, um durch den Schmiedehammer unbrauchbar gemacht zu werden, deshalb wurden sie von den Präfekten eingelagert, in tiefe Seen versenkt oder ganz einfach in der Erde verbuddelt.
    Die Glühbirnen waren nicht die einzigen Rücksprunggüter im Raum, nicht mal die auffälligsten. An einem Bücherstapel lehnten die Reste eines Fernwahrnehmers, montiert auf einem speziell angefertigten Holzrahmen. Er bestand aus fünfzehn Komponenten, der größte hatte etwa den Umfang meiner Faust, der kleinste war so groß wie ein Einmeritenstück. Anders als die kleinen Scherben, die man gelegentlich ausgräbt und auf denen winzige, unzusammenhängende verwackelte Bildchen flackern, zeigte dieser fünfzehnteilige Fernwahrnehmer eine logische Bildfolge, die leicht verständlich war. Ich trat näher heran, um die Details zu erkennen. Das Bild sprang zwar mit verwirrender Geschwindigkeit von einer Einstellung zur nächsten, doch wurde deutlich, dass es sich um irgendein dramatisches Stück handelte, Mann und Frau in einem Schlafzimmer. Es waren Einstige, kein Zweifel, denn der Unterschied zwischen den Geschlechtern wirkte komisch und übertrieben, und sie hatten feine Gesichtszüge und Augen, die so hohl waren wie bei den Kindern auf dem Ovomaltine-Wandgemälde. Ich hielt mein Ohr an das Gerät, und tatsächlich, man konnte die Leute in dem Fernwahrnehmer reden hören. Sie sprachen einen Dialekt, der altertümlich, aber trotzdem zu verstehen war. Die Frau sagte zu dem Mann, er sei nicht mehr derselbe, den sie vor zehn Jahren kennengelernt habe, worauf er erwiderte, es seien nicht die Jahre, sondern der Verschleiß, was ich nicht ganz begriff. Er benutzte den Kosenamen »Liebling«, was darauf hindeutete, dass die beiden verheiratet waren, allerdings konnte ich keine Eheringe erkennen, was dem widersprach. Der Mann zeigte jetzt die Körperstellen, an denen er nicht verletzt war, und die Frau küsste sie nacheinander. Schließlich zeigte er auf seine Lippen, und auch die küsste sie. Es war wohl nur ein Trick seinerseits, ziemlich übel, wenn sie ihn nicht durchschaut hätte, aber ich glaube, sie merkte, was er im Schilde führte, und ich musste laut lachen.
    »Wie viel weißt du?«
    Eigentlich hätte ich zusammenfahren müssen, die Beine in die Hand nehmen und abhauen, doch eigenartigerweise erschien mir Janes Anwesenheit ganz unvermeidlich. Mit einer Mischung aus

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