Grau - ein Eddie Russett-Roman
einen Mitreisenden aufgenommen hatten. Der Signalposten blinkte zurück, die Nachricht sei angekommen, und informierte uns, die Quarantänezeit sei noch vor Mittag zu Ende. Falls wir uns mit Mehltau angesteckt hätten, würden sich innerhalb der nächsten zwei Stunden die ersten Symptome zeigen.
Es war ein heißer Vormittag. Wir setzten uns unter den nächsten Baum, Fandango kochte Tee auf einem Ölöfchen, und der Colormann erzählte von seiner Arbeit, die mir zehnmal interessanter erschien als die Leitung einer Bindfadenfabrik. Ich hörte gespannt zu, während er über die brandaktuellen, komplizierten Themen sprach, mit einer Autorität, wie sie mir vorher noch nie begegnet war.
Er sagte, der Sättigungs-Dispersions-Index – allgemein auch unter der Bezeichnung Ausbleichung bekannt – würde zweifellos weiter ansteigen. Das war eine bedrückende Nachricht. Briefkästen, die typischerweise nur einmal alle fünfzig Jahre überpinselt worden waren, brauchten jetzt bereits nach einer Dekade einen neuen Farbanstrich. Das stellte natürlich eine unerträgliche Belastung für die bestehenden Pigmentressourcen dar und bedeutete gleichzeitig eine steigende Nachfrage nach Altfarben.
»Was ist dran an dem Gerücht, zu intensives Betrachten würde die Ausbleichung beschleunigen?«, fragte ich ihn, da viel über das Thema geschrieben worden war, und nicht alles erschien mir einleuchtend.
»Absolut nichts«, antwortete der Colormann. »Ich würde sogar empfehlen, so viel zu betrachten wie möglich, um die synthetische Farbe voll und ganz zu genießen, bevor sie verschwindet.«
»Eine höhere Altfarbenausbeute kann die Knappheit doch sicher ausgleichen, oder?«, sagte mein Vater.
Der Colormann meinte, das mögliche Produktionsmaximum sei längst überschritten, und würden nicht bald neue Wertgutfelder zum Abbau innerhalb des unerschlossenen Großen Südlichen Ballungsgebiets freigegeben, müsste synthetische Farbe noch stärker rationiert werden als ohnehin schon.
»Aber was ist mit dem Gesindel-Problem?«, wollte ich wissen. Hätte es die dauernden Besetzungen von Gebieten innerhalb der Binnengrenze durch Gesindel und die Probleme bei der Durchquerung der knapp hundert Meter breiten Zone der Unannehmlichkeiten nicht gegeben, wären die dortigen reichen Wertgutfelder längst ausgebeutet worden.
»Aggressiver Einsatz der Mehltau-R-Variante«, sagte der Colormann mit gedämpfter Stimme, »und wenn es stimmt, was man so munkelt, wird es schon in Kürze dazu kommen.«
»Wie würde man eine solche Aktion rechtfertigen?«, fragte mein Vater, da es die Regeln ausdrücklich verboten, dass anderen Menschen Schaden zugefügt wurde, wie minderwertig ihre Intimhygiene, Gewohnheiten oder Sprache auch waren. Und Homo feralensis , mochte er noch so primitiv sein, war ein Mensch, keine Frage.
»Das ist das Beste an der Sache«, sagte der Colormann. »Die Plünderungen von Landschaft und Getreide machen eine Reklassifizierung ihrer Gattung möglich. Gesindel gilt fortan als Ungeziefer. Damit fällt es in den Geltungsbereich der Regeln zur Ausrottung.« Er lachte und fügte noch hinzu: »Das nenne ich Schlupflochkunde auf höchstem Niveau.«
Dad und ich sahen uns an, enthielten uns aber jeden Kommentars. Ich konnte nicht verhehlen, dass Gesindel ein wandelndes biologisches Risiko darstellte, doch wenn man Mehltau einmal erlebt hatte, sogar die eigene Familie betroffen war, dann wünschte man ihn niemandem an den Hals – keinem Gelben, keinem unbeliebten Präfekten, nicht mal dem Gesindel.
Der Colormann spürte, dass wir mit seinen harschen Ansichten nicht übereinstimmten, und lenkte das Gespräch auf sichereres Terrain. Er schilderte uns seine Tätigkeit im Ost-Park, einer der drei wahrhaft großen Gartenanlagen im Kollektiv.
»Ich habe schon gehört, er soll sensationell sein«, sagte Dad, der ein Hobby-Chromobotaniker war. »Ich würde ihn mir gerne eines Tages mal ansehen.«
»Er ist herrlicher als alles, was man sich vorstellen kann«, erklärte der Colormann. »Volle CYM -Einspeisung bei einem Druck von fünfeinhalb Bar. Wir können fast sechzig Prozent Sättigung und Reinheit erreichen, und alles jenseits der Skala ist handgefärbt. Wir halten uns auch nicht einfach nur an das botanische Farbspektrum. Violetttöne, Zwischenschattierungen, Sekundärfarben, Tertiärfarben, eine unendliche Vielfalt feinster Abstufungen, die den Geist beleben und alles Graue aus der Seele vertreiben. Die Lupinenbeete sind besonders schön,
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