Grau - ein Eddie Russett-Roman
bemerkte Daisy, »außer Jane natürlich.«
Ich versuchte, meine Neugier zu verbergen.
»Stimmt, sie wurde mal vermisst«, flüsterte Doug. »Drei Tage und Nächte, vor anderthalb Jahren. Wollte nicht sagen, was passiert oder wo sie gewesen war. Sie meinte, sie könnte sich an nichts erinnern, als sie wieder ins Dorf zurückkam, zu Fuß.« Er beugte sich noch etwas weiter vor. »Ihre Kleider waren zerrissen, sie hatte einen Schuh verloren und tiefe Schnittwunden an beiden Füßen.«
»Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe«, stellte Daisy fest. »Sie war schon immer irgendwie komisch, aber wirkte doch einigermaßen ruhig. Danach … hey, machst du eigentlich bei unserer alljährlichen Hockeyprügelei mit?«
»Wohl oder übel.«
»Dann wirst du es ja mit eigenen Augen sehen. Wenn Jane dich angeht, dann überlass ihr einfach den Ball und lauf weg. Courtland hat mal versucht, sie wegen eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung zu bestrafen, da ist sie auf ihn losgegangen.«
»Losgegangen?«
»Sie hat ihn angegriffen«, sagte Cassie, ohne von ihrem Teller aufzublicken. »Zu Recht. Courtland ist ein Scheusal und ein Lügner.«
»Sie hatte es auf seine Augen abgesehen«, ergänzte Arnold. »Und ist so hart rangegangen, dass seine Wange mit neun Stichen genäht werden musste. Nach ihrem Ishihara heißt es für sie sofort ab zum Reboot, auf jeden Fall. Und wenn du mich fragst, da gehört sie auch hin. Wenn es jemanden gibt, der für alles steht, was mit Dis anfängt, dann sie: Dissens, Disharmonie, Dysfunktion, was du willst.«
Das Gespräch wandte sich jetzt der Öffnung von Hoch-Safran für Sammeltrupps zu, und der Tenor war, dass der Rat einen beispiellosen Optimismus bewiesen habe, wenn er meinte, jemand würde für die Reise dorthin den sicheren Tod riskieren.
»Es ist eine große Stadt westlich von hier«, erklärte Tommo. »An der Küste, seit dem Großen Ereignis verlassen, also reif für eine Ausbeutung der Lagerstätten. Es gibt Rohschrott im Überfluss, und der ist so leuchtend getönt, dass selbst Niederfarbwertige ihn erkennen können. Es sollen sogar Löffel herumliegen. Und Papageien gibt es da, die sind so bunt, die kann wirklich jeder sehen.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Daisy, aber Tommo zuckte nur mit den Schultern.
Aus ihren Gesprächen erfuhr ich, dass vor dreißig Jahren ein – allerdings gescheiterter – Versuch unternommen worden war, eine Straße nach Hoch-Safran zu bauen. Unter den dreiundachtzig Personen, die im Verlauf der vergangenen fünfzig Jahre auf ihren Erkundungen verschollen blieben, waren mehr als vierzig Nachtzügler auf dem Weg zum Reboot, die die gefahrvolle Aufgabe nur übernommen hatten, um sich von ihrem negativen Meritenstatus freizukaufen. Freiwillige für einen Ausflug nach Hoch-Safran gab es heute so gut wie keine mehr. Bei diesen Aussichten erschien der Nachtzug plötzlich gar nicht mehr so unattraktiv.
»Ich glaube, die sind alle von den Flugaffen geholt worden«, sagte Arnold.
»Genau«, sagte Doug mit einem Seufzer. »Die Flugaffen haben sie geholt – und dich holen sie auch gleich, wenn du keinen Spinat in deinen Kleiderschrank hängst.«
Arnold merkte, dass man sich über ihn lustig machte, und verstummte. Flugaffen waren wie Pukas, Khan, Freddie und der Behaarte Irrationale – damit erschreckten Eltern ihre kleinen Kinder, die das Konzept der Regeln, der Hierarchie oder das Meritensystem noch nicht erfassen konnten.
»Hat hier eigentlich schon mal jemand eine Puka gesehen?«, fragte ich.
»Rostberg soll voll davon sein«, sagte Doug und machte ein Gesicht. »Ein Nachhall der Einstigen.«
»Ich kenne ein paar gute Puka-Geschichten«, sagte Arnold. »Manchmal erschrecke ich mich selbst, wenn ich sie erzähle.«
Ich hatte es mir schon gedacht, es war mit den Pukas wie mit Gesindel oder Schwänen – es wurde viel über sie geredet, aber noch nie hatte einer wirklich einen gesehen. Doch ich verdrängte den Gedanken an sie, denn es gab Wichtigeres. Ich hatte nämlich keine Zweifel, dass Jane ihre Drohung wahrmachen würde, wenn ich von dem Weg, den sie für mich vorgesehen hatte, abwich.
Zum Nachtisch gab es Pflaumenkompott mit Vanillesoße. Die Pflaumen waren so, wie Pflaumen sein sollten, aber die Soße war grau und wenig appetitlich. Der Alte Magenta mochte eine Nervensäge sein, doch hatte er immer darauf beharrt, dass Vanillesoße einen hellen, synthetischen Gelbton aufwies, den er manchmal sogar aus eigener Tasche bezahlte. Es war der einzige
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