Grau - ein Eddie Russett-Roman
versöhnliche Zug an ihm.
Der letzte Gang wurde serviert, und Buntys abschätziger Blick flog in unsere Richtung. Auf eigenes Drängen war sie zum ständigen Manieren-Aufseher ernannt worden. Als sie jetzt näher trat, versiegten die Gespräche, alle setzten sich gerade hin und legten die Ellbogen an. Instinktiv machte ich es genauso.
»Ist Ihr Haar nicht ein bisschen zu lang, Fox?«, spöttelte sie.
»Bunty«, erwiderte Tommo seelenruhig, »Ihre Fresse ist einfach zum Kotzen.«
Der ganze Tisch verstummte, plötzlich herrschte Totenstille.
» Was haben Sie da gerade gesagt?«
»Ich sagte, das Essen ist einfach zum Protzen. Wieso? Was haben Sie denn verstanden?«
Sie sah erst ihn böse an, dann uns, aber wir zogen alle eine Unschuldsmiene, worauf sie wutschnaubend davonstakste.
»Du bist überreif fürs Reboot«, murmelte Daisy, die kaum aufhören konnte zu kichern.
»Bunty soll sich nicht so aufblasen«, antwortete er. »Hast du ihr den Zeh in die Tasche gesteckt, Doug?«
Doug nickte, und wir brachen in Gelächter aus.
Im Dorf
1.1.01.01.002 : Die Worte Munsells sind jederzeit zu befolgen.
Nach dem Mittagessen schlenderte ich gemächlich nach Hause, weil ich den Colormann auf seinem Heimweg abpassen wollte. Ich hatte noch nie jemanden von NationalColor kennengelernt, der sich auch noch dazu herabließ, sich mit mir zu unterhalten, und ich wollte aus diesem Kontakt so viel wie möglich für mich herausholen.
»Master Edward?«
Es war Stafford, der Portier. Er hielt einen kleinen Umschlag in der Hand, ein Telegramm von Constance, und es waren keine guten Nachrichten.
AN EDWARD RUSSETT RG6 7GD ++ OST-KARMIN RSW ++ VON CONSTANCE OXBLOOD SW3 6ZH ++ JADE-UNTER-DER-LIMONE GSW ++ NACHR. BEGINNT ++ MUTTER UND ICH DER ANSICHT DEIN GEDICHT VÖLLIGER BLÖDSINN ++ ROGER HAT VIEL BESSERES VERFASST I. E. ANFÜHRUNGSZEICHEN AUSGELASSEN FLATTERN DIE MEHLSCHWALBEN VERBREITEN FREUDE IM RAUSCH DER FRÜHLINGSBALZ ANFÜHRUNGSZEICHEN ++ STRENG DICH MEHR AN ENGEL MACH DIR KEINE SORGEN MEINETWEGEN ROGER UNTERNIMMT BOOTSFAHRT MIT MIR ++ D. CONSTANCE ++ ENDE D. NACHR.
Ich fluchte und zerknüllte das Papier.
»Probleme?«, erkundigte sich Stafford.
»Allerdings. Roger kann kaum seinen Namen buchstabieren, und schon gar nicht Gedichte schreiben. Dieses dumme Zeug über flatternde Mehlschwalben hört sich verdächtig nach dem lokalen Verseschmied in Jade-unter-der-Limone an, Gerald Henna-Rose.«
Roger Marone hatte beschlossen, in meiner Abwesenheit den Einsatz zu erhöhen, also musste ich Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich fragte Stafford, ob es jemanden im Dorf gäbe, der romantische Gedichte schreiben könne.
»Aber er muss wirklich gut sein«, sagte ich. »Nicht zu anzüglich. Constance mag keine unverhohlen groben Metaphern, leider.«
»Ich kenne da jemanden, der Ihnen vielleicht helfen könnte«, antwortete Stafford. »Aber das wird nicht billig. Es ist mit Risiken verbunden. Sie wissen ja, dass die Präfekten von unverantwortlich kreativem Ausdruck nichts halten.«
»Fünf Prozent Finderlohn?«
»Mal sehen, was ich tun kann.«
Ich stieß die Haustür auf und sah nach, ob auf dem Tischchen im Flur Nachrichten lagen. Es gab sogar mehrere: Der hartnäckige Dorian G7 vom Merkur fragte nach, ob ich ihm meine Eindrücke von der Fahrt nach Rostberg schildern könne, einige Rote boten mir ihre Freundschaft an, und ein Briefchen »aus der Feder von Violetta von der Malve« erinnerte mich an meine Verpflichtungen gegenüber dem Orchester. Es gab auch Nachrichten für meinen Vater, und außerdem lag noch Imogen Fandangos Ehe-Bewerbungsmappe auf dem Tisch. Das Album enthielt ein Studiofoto von Fandangos Tochter, die auf ihre Art nicht unattraktiv war, apart, forsch, purpurhaft eben, dazu mehrere Empfehlungsschreiben sowie eine lange Liste ihrer Tugenden, fünfundsiebzig insgesamt. Sie fing mit einer druckreif formulierten, sich in Andeutungen ergehenden Würdigung ihres voraussichtlich sehr hoch ausfallenden Ishihara-Ergebnisses an, und sie endete mit dem Wunsch, eines Tages Ost-Karmin im Einrad-Staffelrennen auf der Gute-Laune-Messe vertreten zu dürfen. Ich ersparte mir die weiteren Details und beschloss, Bertie Magenta gleich morgen früh ein Telegramm zu schicken. Fandango hatte sechstausend für Imogen verlangt, zwei Prozent Finderlohn wären demnach hundertzwanzig – eine willkommene Ergänzung meiner Ausstattung, die ich darauf verwenden wollte, Constance meinem Nebenbuhler Roger und seinem Möchtegerndichter
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