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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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stand plötzlich auf und hastete los, um seinen korrekten Sitzplatz einzunehmen. Von der Malve und die anderen Präfekten zogen im Gänsemarsch ein. Ich ließ mich von dem Gewusel mitreißen und landete am Kopfende des Tisches, Tommo auf der einen, Doug auf der anderen Seite.

Von der Malve
    1.03.02.13.114 : Taschentücher sind täglich zu wechseln und nach Gebrauch wieder gefaltet in die Hosentasche zu stecken. Gemusterte Taschentücher sind erlaubt.
    »Guten Tag Ihnen allen«, setzte der Oberpräfekt ein, und die etwa dreitausend Stimmen im Saal quittierten dumpf grollend und gelangweilt mit einem gemurmelten »Guten Tag«. Von der Malve stand sehr weit entfernt von uns, doch unmittelbar vor ihm hing von der Decke herab eine Flüstertüte, in die er sprach. Der Alte Magenta hätte so etwas nicht nötig gehabt, seine Stimme war laut genug.
    Ich hatte seit meiner Geburt an sechseinhalbtausend Versammlungen teilgenommen und würde nach aktuellem Stand der Lebenserwartung noch an weiteren zweiundzwanzigtausend teilnehmen, bevor ich abtrat. Nach den ersten zweihundert fand man sie nur noch ermüdend, und nach den ersten tausend hörte kein Mensch mehr richtig zu, außer den Gelben. Für alle anderen waren die Versammlungen wie Löcher im Leben, ausgestopft mit Langeweile. Flüstern, dösen, sich gegenseitig anstoßen oder Zettelchen mit Nachrichten schreiben, all das war auf das Strengste verboten, sodass sich das Risiko einfach nicht lohnte und die meisten die Zeit für eine stille Kontemplation nutzten. Mein Freund Fenton behauptete, er habe in den Versammlungen gelernt, mit offenen Augen zu schlafen. Wenn das wirklich stimmte, wäre es ganz praktisch. Ich nutzte die freie Zeit, um mich in Kopfrechnen zu üben, an meiner Theorie über die Verkürzung der Wartezeit beim Schlangestehen zu feilen oder mir ein einigermaßen plausibles Schlupfloch auszudenken, das mir einen Einstieg in das voraussichtlich profitable Löffelgeschäft ermöglicht hätte. Es wäre nicht das erste Experiment dieser Art gewesen, nur waren alle bisher erfolglos geblieben. Randolph Aubergine hatte mal versucht, Modell-Pflanzenschaufeln im Maßstab 1:2 auf den Markt zu bringen, aber das Konzept war durch die strenge Konformitätsprüfung gefallen und die Idee wieder aufgegeben worden.
    Ich wurde aus meinen Löffelträumereien gerissen, als von der Malve meinen Namen nannte. Schuldbewusst blickte ich auf, und alle starrten mich an.
    »… Die Russetts haben den weiten Weg von Jade-unter-der-Limone im Grünen Sektor West auf sich genommen«, fuhr der Oberpräfekt fort, »und gemeinsam wollen wir sie in unserer bescheidenen Kommune willkommen heißen und ihnen jede Hilfe angedeihen lassen, die sie benötigen.«
    Weiter teilte er mit, wir hätten die Gefahren auf der Reise nach Rostberg tapfer ignoriert und die offizielle Feier für die Neuhängung des Caravaggio werde am Freitag stattfinden.
    Diejenigen, die noch aufmerksam waren – eigentlich sogar recht viele, wie mir schien –, applaudierten pflichtbewusst, als Dad und ich uns von unseren Plätzen erhoben, damit uns alle sahen. Wir bedankten uns mit einem höflichen Nicken.
    Ich entschied, dass es vielleicht doch vorteilhafter wäre, sich anzuhören, was so los war im Dorf, und meine besteckinspirierten Tagträume auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben. Von der Malve ging die Meldungen des Tages durch, die für das Dorf von Bedeutung waren, bei mir dagegen wenig Interesse hervorriefen: Die Linoleumproduktion werde aufgrund der Deflation heruntergefahren. Was für die Gewinn- und Verlustrechnung des Dorfes verheerend war – der Colorgarten würde nach vier Wochen verblassen – , war für die Grauen ein Vorteil. Das heißt, es wäre ein Vorteil gewesen, wenn der Rat nicht gleichzeitig beschlossen hätte, weitere dreieinhalb Hektar Land für die Kultivierung unter Glas zu nutzen. Dem Murren der Grauen nach zu urteilen war Fabrikarbeit trotz der Unfälle immer noch besser, als Ananas anzubauen.
    Von der Malve hielt kurz inne, dann schlug er die nächste Seite in seinem Notizblock auf. In dem Moment öffnete sich knarrend die Tür. Die Präfekten blickten ungehalten auf, um zu sehen, wer es wagte, mitten in die Versammlung hineinzuplatzen, doch es war nur der Apokryphe Mann, und alle waren erleichtert. Eine Kruste aus getrocknetem Schlamm bedeckte seinen Körper, und außer einem Paar Strümpfe hatte er nichts am Leib. In der Hand trug er einen Henkelbeutel mit Äpfeln. Er wandelte zwischen den

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