Graue Schatten
und mutmaßte, das könne doch genauso gut ein Vertreter oder ein Mitglied einer Sekte, vielleicht auch ein Zeuge Jehovas, gewesen sein ...
Nun war es Strobe, der spöttisch lächelte: Im Trainingsanzug! Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. Der Bub war heute wirklich nicht in Form.
Das machte sich auch gleich noch einmal dadurch bemerkbar, dass ihn Strobes hämisches Grinsen dazu veranlasste, sich impulsiv zu verteidigen: Nicht alle Sekten würden im Smoking auftreten, außerdem sei es ja auch möglich, dass der Fremde den ähnlich klingenden Namen einer anderen Bewohnerin genannt habe. Schließlich habe er ja mit Akzent gesprochen. Am Ende würden sich all diese Hinweise als Luftnummern erweisen, und man würde doch wieder auf die einzig logische These zurückkommen: Einem seelisch angeknacksten Pfleger namens Linde waren die Sicherungen durchgebrannt.
Strobes Miene blieb unverändert heiter. Er hatte keinen Kater. Und er hatte seinem Buben wieder einmal ein paar Details vorenthalten, die er ihm jetzt offenbarte: Erstens, Larissa Groß sei sich ganz sicher, dass der Mann, den sie am Sonntagabend hier im Haus gesehen hatte, der neue Freund von Bettina Richter sei. Und die habe, zweitens, Frau Groß gegenüber behauptet, ihr Freund sei zum Zeitpunkt, als er im Heim von immerhin zwei Personen gesehen worden war, mit ihr zusammen gewesen. Bei ihm zu Hause! Das bedeute, entweder der Lover hatte sich von Frau Richter unbemerkt für eine Weile wegbegeben, oder sie verschaffte ihm ein Alibi. Wenn Ersteres zutreffe, sei der Ukrainer verdächtig, bei Variante zwei seien es beide.
Wie immer wenn Schell mit neuen Informationen gefüttert wurde, schalteten sich seine Emotionen aus und sein Gehirn ein. Völlig gelassen bemerkte er, dass aber nun auch Larissa Groß verdächtig sei, da sie behaupte, die neue Adresse ihrer Freundin nicht zu kennen, obwohl sie sich offensichtlich mit ihr unterhielt.
Das hatte Strobe doch tatsächlich vergessen zu erwähnen: Die neue Adresse der Richter hatte ihm Frau Groß inzwischen gegeben. Nachher würden sie noch mal eine kleine Stadtrundfahrt machen. Neben der angeblich hysterischen Tochter der verunglückten Müller stünde auch Bettina Richter auf dem Programm.
„Alles gut und schön.“ Schell lehnte sich zurück. „Ein Mann hat sich kurz vor der Tat unter Angabe falscher Gründe im Heim aufgehalten. Seine Freundin gibt ihm für die fragliche Zeit ein Alibi. Aber was sollte das mit dem Mord an der Sausele zu tun haben?“
Strobe hatte so spontan auch keine Erklärung parat. Er lehnte sich ebenfalls zurück und ließ den Bub weiter laut denken.
„Ich meine, die These vom überlasteten Pfleger, der wegen fehlender Anerkennung oder aus Mitleid tötet, ist momentan die einzig nachvollziehbare. So was hat's schon zur Genüge gegeben. Alles andere ist doch ziemlich abenteuerlich, meinst du nicht?“
„So abenteuerlich wie das ganze Leben“, meinte Strobe lakonisch.
Schell ließ sich nicht beirren: „Was soll der Ukrainer deiner Meinung nach für eine Rolle gespielt haben? Soll er der Mörder sein?“
Strobe registrierte, dass am Nachbartisch plötzlich das Gespräch dreier alter Damen verstummte. Womöglich war Schell das Wort ‚Mörder‘ etwas zu laut entwichen und hatte ein leistungsfähiges Hörgerät erreicht.
Schell bemerkte es aber selbst gleich, beugte sich auf seine verschränkten Arme gestützt über den Tisch und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Welches Motiv sollte der Neue von Bettina Richter haben, solch ein schweres und außerdem für ihn risikoreiches Verbrechen zu begehen?“
Sein Kollege wusste es auch nicht. Schell raunte ihm zu: „Überleg doch mal. Dass der es war, ist total unwahrscheinlich. Wenn er noch nie in dem Heim war, hätten ihm ja auch die nötigen Ortskenntnisse gefehlt. Und ein Fremder hätte ja sowieso nur dann einen Grund, eine Heimbewohnerin zu töten, wenn er in irgendeiner Beziehung zu seinem Opfer oder zu einem Mitarbeiter des Heimes stünde, richtig? Das heißt, zu jemanden, der ihm das notwendige Insiderwissen vermittelt.“
Der Hauptkommissar nickte zustimmend. Er sackte gerade ins Mittagsloch und beabsichtigte deshalb, seinen Kollegen noch ein bisschen reden zu lassen. Aus diesem Grund hielt er auch seinen Einwand zurück, der Bub berücksichtige nicht, dass Bettina Richter zwar keine Mitarbeiterin des Sonnenweiß-Stifts sei, aber trotzdem durchaus über das notwendige Insiderwissen, wie Schell das nannte, verfügen könne: In
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