Graue Schatten
sagte er: „Sie haben doch ein gutes Gedächtnis, Frau Degner. Können Sie die Sache mit dem Schatten noch mal dem Kommissar erzählen?“
Schweigend starrte sie Strobe an.
„Ich würde gerne herausbekommen, wer Sonntagnacht in Ihrem Zimmer war“, fing der Hauptkommissar an. Frau Degner blieb stumm.
„Haben Sie nur seinen Schatten gesehen?“
Sie schüttelte vage mit dem Kopf.
„Haben Sie die Person erkannt?“
Ein deutliches Kopfschütteln.
„Haben Sie erkannt, ob es eine männliche Person war?“
Frau Degner nickte sofort.
„Es war also keine Schwester?“
Sie schüttelte mit dem Kopf.
„War es Herr Linde?“
Sie schüttelte energisch mit dem Kopf.
„War er weiß angezogen?“
„Grau“, flüsterte sie.
Sie hatte gesprochen! „Der Mann hatte etwas Graues an?“, wollte Strobe bestätigt wissen.
Sie nickte.
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sie im Dunkeln die Farbe erkannt hat, dachte sich Strobe. Trotzdem fragte er, auch an Max gerichtet: „Sind die Nachtwachen immer weiß gekleidet?“
„Normalerweise schon, zumindest nicht dunkel.“
Was Linde in dieser Nacht anhatte, ließe sich ja überprüfen. „War es Herr Eiche?“
Sie zuckte mit der Schulter und sah Strobe fragend an.
„Was hatte der Mann genau an? Konnten Sie Einzelheiten erkennen? Stiefel? ... Einen Mantel? Hatte er etwas auf dem Kopf?“
Da die Frau jetzt überhaupt nicht reagierte, stellte Strobe ihr von nun an nur noch Fragen, die sie mit Ja oder Nein beantworten konnte. So bekam er immerhin heraus, dass es zu dunkel gewesen war, um zu erkennen, was genau für Kleidung der nächtliche Besucher getragen hatte. Immerhin schien es nicht die Arbeitskleidung des Pflegepersonals gewesen zu sein. Max hatte noch hinzugefügt, dass durch die Straßenbeleuchtung vor dem Haus sicher auch ohne Licht im Zimmer zu erkennen sei, ob jemand die helle Pflegearbeitskleidung anhatte oder nicht. Strobe erfuhr weiterhin, dass dieser Mann groß gewesen, lautlos in ihr Zimmer gekommen war, eine Weile lediglich still an der Tür gestanden hatte und dann ebenso leise wieder gegangen war. Vor Angst hatte Frau Degner währenddessen still dagelegen und sich schlafend gestellt.
Den größten Erfolg für Strobe bedeutete es aber, dass er herausbekam, in welcher Nachthälfte sich der mysteriöse Vorgang abgespielt hatte. Er fragte sie, ob sie in jener Nacht auch die Kirchturmschläge gezählt habe. Als sie das bejahte, wollte er wissen, ob sie sich erinnern konnte, wie viel es geschlagen hatte, bevor der Mann in ihr Zimmer kam. Er zählte ihr jede Stunde ab ein-undzwanzig Uhr vor. Die genaue Zeit konnte sie nicht nennen, aber bis zur Zwölf sagte sie entschieden Nein. Erst danach wurde sie unsicher. Das reichte dem Hauptkommissar. Er bedankte sich, versprach ihr, dass sie den Mann finden würden, damit er nicht mehr ihre Nachtruhe stören könne, wünschte noch einen guten Appetit und verließ mit dem Pfleger das Zimmer.
„Also vielleicht doch Herr Eiche?“, mutmaßte Strobe im Flur.
„Wäre schon möglich. Er war am Montagmorgen unterwegs gewesen. Bis zu unserem Schwesternzimmer ist er gelaufen. Renate, also Frau Stiegler, bekam wohl einen ziemlichen Schreck, als er plötzlich vor ihr stand. Aber dann war er ganz zahm und ließ sich wieder in sein Zimmer führen.“
„Könnten Sie sich vorstellen, dass Herr Eiche einer Heimbewohnerin Schaden zufügt, sie verletzt?“
„Ich wüsste nicht, dass er jemals einer Bewohnerin was getan hätte. Nur Pflegerinnen und Pflegern gegenüber war er manchmal gewalttätig gewesen.“
Strobe bedankte sich für die Hilfe. Max verschwand wieder im Zimmer von Frau Öchsle.
Der Hauptkommissar hielt nun zwei Teile in der Hand, bei denen nicht sicher war, ob sie zum gleichen Puzzle gehörten: Zum einen schien ein Fremder im Heim gewesen zu sein – gerade einige Stunden, bevor Frau Sausele sterben musste. Zum anderen hatte sich eine Person, die keine Pflegekraft war, ausgerechnet in der Mordnacht in ein Zimmer verirrt, das fast neben dem der Sausele lag. Vorausgesetzt die Geschichte hatte sich tatsächlich nachts ereignet.
Was er mit diesen Erkenntnissen anfangen sollte, wusste Strobe noch nicht. Aber das Gefühl, dass hier doch mehr im Spiel gewesen war als eine überforderte Nachtwache, verstärkte sich. Weitersammeln, dachte er.
Auf dem Flur war es ruhiger geworden. Die Bewohner aßen noch oder waren bereits in die Nachmittagslethargie verfallen. Von den Pflegekräften waren nur die grün leuchtenden
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