Graue Schatten
Lichter über den Zimmertüren zu sehen.
Strobe ging den Gang nach vorn und warf einen Blick nach rechts, in den offenen Aufenthaltsraum. Als er im Vorbeilaufen einen Guten Appetit wünschte und keine Antwort erhielt, dafür aber verständnislose Blicke erntete, überfiel ihn einen Augenblick lang so etwas wie Angst. Es wäre schließlich möglich, dass er später auch hier sitzen und seine Linsen und Spätzle in geistiger Umnachtung zu sich nehmen musste. Aber bis dahin wären noch mindestens dreißig Jahre Zeit, munterte er sich umgehend selbst auf, und plötzlich fühlte er sich mit seinen fünfzig unwahrscheinlich jung.
Er lief an Treppenhaus und Aufzug vorbei und schaute rechts um die Ecke. Auf Station A verrieten ebenfalls nur drei grüne Lampen, dass die Bewohner nicht sich selbst überlassen waren.
Hier auf der Nachbarstation von Station B wohnte auch Heinz Eiche. Strobe hatte vor, einen Blick in die Kartei des Bewohners zu werfen, der früher gewalttätig gewesen sein sollte. Er steuerte das Schwesternzimmer an, das sich auch hier etwa in der Mitte der Station befand. Die Tür stand offen, es war niemand im Raum. Der Karteiwagen stand neben dem Schreibtisch. Strobe überflog ein paar Namen, fand die Kartei des Bewohners und schlug sie auf.
Die Informationssammlung verriet dem Hauptkommissar unter anderem, dass Herr Eiche an einer senilen Demenz mit zeitweiligen Unruhezuständen litt und dass auch sein Hausarzt Dr. Hansen war. In den Berichtsblättern, die Strobe überflog, fand er das bestätigt, was bereits verschiedene Mitarbeiter Herrn Eiche betreffend ausgesagt hatten. Es schien tatsächlich in letzter Zeit nichts mehr vorgefallen zu sein. Der Ausflug zur Nachbarstation am Montagmorgen wurde nicht einmal erwähnt. Strobe notierte sich alle Medikamente, die der Mann bekam, sowie deren Dosierung, und hing den Ordner wieder in den Wagen.
Er hatte nun vor, seinen Kollegen zu suchen, und steuerte die nächste grüne Lampe an. Als er schon zum Klopfen ansetzte, ging eine der Türen ganz hinten auf. Schell kam heraus.
„Du siehst immer noch nicht besser aus. Ich glaube, wir machen erst mal eine strategische Pause in der Cafeteria, unten“, schlug der Hauptkommissar vor, als Schell endlich heran geschlurft war.
„Gute Idee. Aber essen kann ich nix. Ich hab gerade jemandem beim Füttern zugesehen. Jetzt bin ich erst mal satt.“
„Bub, das heißt hier nicht füttern, sondern Essen geben. Aber wenn du schon so gerne anderen beim Speisen zuschaust, kannst du das gleich bei mir machen. Ich habe nämlich jetzt Hunger.“
Als sie dann in der Cafeteria im Erdgeschoss saßen und Strobe genüsslich zwei Schinkensandwiches verdrückte, berichtete ihm Schell, dass sich bestätigt hatte, was Bodo Stiller und Larissa Groß bereits vermutet hatten: Frau Abele besaß weder Verwandte noch Bekannte in der Ukraine. Aber Besuch habe sie am letzten Sonntag gehabt, und zwar vom sogenannten Besuchsdienst. Eine Frau Schade besuche ehrenamtlich Bewohner, die sonst niemanden mehr hatten. Sie sei gegen fünfzehn Uhr wieder gegangen. Danach sei Frau Abele allein gewesen. Das habe sie selber ausgesagt und ihre Nachbarin habe es Schell danach bestätigt. Ansonsten gebe es keine Neuigkeiten.
„Den mysteriösen schönen Mann hat auch niemand weiter gesehen“, beendete Schell lustlos seinen Bericht.
Strobe erzählte ihm nun die Geschichte vom grauen Schatten, die Schell mit einem lächelnden Stirnrunzeln aufnahm. Nach kurzem Nachdenken äußerte der junge Kommissar aber einen Gedanken, der Strobe auch schon gekommen war: Vielleicht hatte Eiches Hausarzt die Wirkung der Medikamente falsch eingeschätzt. Bei dem enormen Körpergewicht des Riesen wäre das doch denkbar, oder? Wenn sie nicht richtig wirkten, und der senile Herkules machte, vom Personal unbemerkt, nächtliche Ausflüge durch das Haus? Aber selbst wenn, war es möglich, dass er eine schlafende Bewohnerin mit einem Kissen erstickt hatte?
Strobe konnte es ihm nicht sagen. Man müsse diese Möglichkeit ab sofort mit einbeziehen und sollte neben dem Pflegepersonal auch mit Dr. Hansen und eventuell mit einem anderen medizinischen Fachmann darüber reden, meinte er. Natürlich müsse man nun auch jeden fragen, ob Herr Eiche in letzter Zeit zu ungewöhnlichen Zeiten an ungewöhnlichen Orten gesehen wurde.
Dann gab es aber auch noch die andere Spur: Den geheimnisvollen Fremden, den bis jetzt immerhin zwei Personen am Sonntagabend im Haus gesehen hatten.
Schell winkte ab
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