Graue Schatten
Befragungen war erwähnt worden, dass sie ihren Chef, Dr. Hansen, manchmal bei seinen Visiten im Heim begleitet hatte. Außerdem war sie mit einem Mitarbeiter des Heimes liiert gewesen und mit einer Mitarbeiterin befreundet. Die beiden hätten ihr, vielleicht ungewollt, genügend Interna anvertrauen können.
Strobe hätte dem Bub auch wieder mal unter die Nase reiben können, dass sie Jäger und Sammler waren, das Sammeln aber zuerst kam. Und sie würden sicher noch einen Sack voll Puzzleteile zusammenkriegen. Aber er ließ Schell weiter spekulieren. Es war unterhaltsam, ihm zuzuhören, und vielleicht war ja eine brauchbare Anregung dabei.
„Das Opfer hat ihm sicher dieses Insiderwissen nicht verschafft“, erkannte der Bub soeben. „Der vermeintliche neue Freund der Richter war ja scheinbar noch nie im Heim und die Sausele hat das Heim nie verlassen. Oder? Bliebe nur ein Mitarbeiter als möglicher Mittäter. Womit wir wieder bei Kevin Linde wären. Und überhaupt, was ist mit den anderen Todesfällen? War der Fremde da auch in der Nähe? Rainer, das ist mir alles ein bisschen zu spekulativ.“
„Vermutungen sind nun mal spekulativ“, gab Strobe zu bedenken. Und weil ihm Schells Spekulationen zu einseitig in Richtung Kevin Linde gingen, schaltete er sich wieder ein: „Freut mich, dass deine grauen Zellen besser durchblutet sind als deine Gesichtshaut, Dieter. Aber außer Linde gibt es ja wohl noch mehr Mitarbeiter. Was ist zum Beispiel mit diesem Locke? Der könnte das Beruhigungsmittel geklaut haben. Er wohnt übrigens auch im Städtle.“
Schell hielt sich den Kopf: „Hast du nicht von einer kleinen Stadtrundfahrt geredet? Wie viele Sehenswürdigkeiten hast du noch auf Lager?“
Der Hauptkommissar ging nicht auf die Bemerkung des verkaterten Buben, der sich wahrscheinlich schon wieder um eine private Verpflichtung sorgte, ein, sondern spekulierte nun seinerseits weiter: „Es wäre doch möglich, dass es Linde keineswegs so gleichgültig ist, dass seine Freundin einen anderen hat. Nehmen wir an, Linde stellt ihr nach, belästigt sie oder bedroht sie sogar. Könnte ein Grund für den Neuen sein, Linde einen Denkzettel zu verpassen. Wäre doch möglich, die zwei, Locke und der Ukrainer, haben zusammen etwas gedreht. Liebe, Hass, Eifersucht, verletzte Gefühle, das sind häufige Motive. Und dieser Locke ist nun auch nicht so ein dicker Freund von Linde, ob er die Ampulle geklaut hat oder nicht.“
„Nach dem zu urteilen, was er über Linde alles ausgeplaudert hat, scheint es nicht so zu sein“, musste Schell zugeben. Dann wiegte er aber zweifelnd den Kopf: „Das mit der Eifersucht, das wäre ein Motiv für den neuen Stecher der Richter. Aber warum sollte Locke bei so etwas mitmachen?“
Das wusste Strobe nun auch nicht so genau. Er hatte ja sowieso nur der Behauptung des Buben widersprechen wollen, dass Linde der einzige wirklich überzeugende Mörder sei.
Seit seinem Gespräch mit dem Pflegedienstleiter, gestern Nachmittag, hatte Strobe auch noch eine weitere These in der Schublade. Die behielt er aber geflissentlich für sich. Sie war wirklich zu heikel, als dass er seinem eigenen Grundsatz zuwiderhandeln und die Treibjagd auf jemanden eröffnen würde, in dessen Porträt noch zu viele Puzzleteile fehlten. Außerdem würde Schell sie noch abenteuerlicher finden als die Thesen, die er schon kannte, und ihn sicher auslachen.
Stattdessen zog Strobe es vor, die Pause zu beenden. „Okay, ich gebe dir recht“, sagte er. „Bevor wir hier weiter spekulieren, statten wir lieber ein paar Leuten in Lauffen einen Überraschungsbesuch ab. Auf geht's Bub!“
Als Strobe und sein Kollege vor der Tür von Andrej Kovalevs Wohnung standen und sich nach dem zweiten Klingeln noch nichts tat, meinte Schell gespielt enttäuscht: „Das war dann wohl wieder mal nichts.“
Die beiden zu diesem Teil des zweistöckigen Reihenhauses gehörenden Parkplätze waren belegt.
„Vielleicht macht das Pärchen einen Sonntagsspaziergang“, resignierte nun Strobe. Er sah Schell die Freude darüber an, dass so der Feierabend auf einen Schlag noch eine halbe Stunde näherrückte. Auch bei der Tochter von Frau Müller hatten sie schon umsonst geklingelt.
Plötzlich meinte der Hauptkommissar, im ersten Stock, da, wo der Anordnung der Klingeln nach, Andrejs Wohnung sein musste, eine Bewegung hinter der Gardine zu erkennen. Er berührte Schell am Arm und deutete mit dem Kinn nach oben.
„Alles klar“, murmelte Schell nur. Die
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