Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Nimtsch
Vom Netzwerk:
jemand in ihrem Zimmer. Sie haben das am letzten Montag, fünfzehn Uhr eingetragen. Wann hat sie's Ihnen erzählt?“
    „Kurz vorher, beim Kaffee.“
    „Aber wenn sie zeitlich desorientiert ist, könnte es doch sein, dass sie das Erlebnis tagsüber hatte. Sie hat tagsüber wie immer geschlafen, jemand ist in ihr Zimmer gekommen, und sie hat gedacht es wäre Nacht.“
    Max schüttelte den Kopf: „Nachts ist sie zeitlich orientierter als tagsüber. Sie ist meistens hellwach und zählt die Schläge der Kirchturmuhr unten in Lauffen. Die hört man hier ziemlich gut, wenn es ruhig ist. Eine Nachtschwester hat mal berichtet, sie habe einmal zwanzig Minuten später als sonst nach ihr geschaut und das habe Frau Degner gleich bemerkt. Ich bin mir sicher, dass sie das Erlebnis mit dem grauen Schatten zeitlich richtig einsortiert hat. Sie war richtig aufgeregt, als sie mir davon erzählte. Ihr war es ganz wichtig, dass man in Zukunft nachts im Bad das Licht anlässt. Sie muss einen heftigen Schreck gekriegt haben.“
    „Warum hat sie es nicht schon am Morgen jemandem erzählt? Wenn der Schreck so groß war, hätte sie doch sicher auch mal mit jemand anderem außer Ihnen geredet?“
    „Theoretisch schon. Bloß ist morgens die Hektik so groß, dass keiner Zeit für sie hat. Und Herr Linde hatte in dieser Nacht auch keinen Grund in ihr Zimmer zu gehen, die Frau ist nicht inkontinent. Als ich ihr am Montag Kaffee und Kuchen brachte, war ich halt der Erste an dem Tag, der sich mal kurz an ihr Bett setzte. Der erste, der nicht bloß fragte, ob alles in Ordnung sei, sondern auch die Antwort abwartete. Das kann bei ihr manchmal eine Weile dauern.“
    Max schob der jungen Frau Öchsle ein Schälchen mit Pudding hin, gab ihr den Löffel in die Hand, die er unter dem Tischchen hervorgeholt hatte, und sagte: „Versuchen Sie mal selber, Frau Öchsle. Ich komme dann noch mal rein und helfe Ihnen, wenn es nicht klappt.“
    Er ließ die Frau sitzen und sie verließen das Zimmer.
    „Den Pudding hätten Sie der Frau aber noch geben können, oder?“, meinte Strobe vor der Tür, ahnte aber schon die Antwort, die ihm nun der Pfleger gab: „Sie kann noch viel selber machen, wenn sie unbedingt will und sich richtig anstrengt. Was das Essen betrifft, sieht sie zwar dann nachher aus wie ein zweijähriges Kind, aber wir denken, dass sie es trotzdem als positiv empfindet, wenn sie ein paar Löffel selber gegessen hat. Und beim Pudding ist der Wille einfach stärker. So, jetzt stelle ich Frau Degner das Essen rein.“
    „Wenn ich mit rein komme, meinen Sie, sie würde die Geschichte noch mal erzählen?“, fragte Strobe.
    „Versuchen kann man's ja.“
    Sie betraten Zimmer 213. Die Vorhänge waren zugezogen.
    „Hallo zusammen“, grüßte der Pfleger, stellte das Essen auf den Tisch und machte Licht. Draußen war es schon nicht sehr hell, doch in diesem Zimmer war es finstere Nacht. Die Luft war eher noch schlechter als auf dem Flur. Strobe blieb an der Tür stehen.
    „Frau Degner, wissen Sie noch, was Goethes letzte Worte waren?“, fragte Max und zog dabei die Vorhänge zurück. Die Frau, die in Kleidern auf dem Bett am Fenster lag, starrte Strobe an. Stumm schien sie zu fragen: Wer ist der fremde Mann?
    „Sie wissen es: Mehr Licht!, waren seine letzten Worte“, beantwortete Max selbst seine Frage.
    „Grüß Gott, Frau Degner“, grüßte Strobe nun und versuchte vertrauenswürdig zu lächeln.
    „Das ist Herr Strobe. Er ist von der Polizei und wegen des grauen Schattens hier, der Sonntagnacht in Ihrem Zimmer war.“
    Die Miene der Frau verdunkelte sich. Strobe wagte dennoch einen Vorstoß, ging zu ihrem Bett und reichte ihr die Hand.
    „Und das ist Frau Degner.“ Max deutete auf die Bewohnerin.
    Sie blieb liegen, gab aber Strobe die Hand und nickte ihm zu.
    „Angenehm, Strobe“, sagte der Hauptkommissar. Er schaute sich kurz um. Jetzt sah er die Mitbewohnerin von Frau Degner, im Bett an der Wand, vom Eingang aus durch das Bad verdeckt. Sie hatte die Augen offen, wirkte aber abwesend. Von einer Flasche, die an einem Infusionsständer hing, lief offenbar eine hellbraune Flüssigkeit über einen dünnen Plastikschlauch in die Nase der Frau. Strobe schaute schnell wieder weg und zu der Bewohnerin, die den grauen Schatten gesehen hatte.
    „Wollen Sie etwas essen? Es gibt Schupfnudeln und Apfelmus“, sagte der Pfleger. Elvira Degner reagierte nicht.
    „Sie isst es meistens später, auch wenn's schon kalt ist“, erläuterte Max. Dann

Weitere Kostenlose Bücher