Graue Schatten
dem Packen Papier, der auf seinem Schoß lag, und fing an: „Die Zwillingsbrüder wurden 1982 in der Ukraine geboren. Andrej Kovalev ist 2000 zusammen mit seinen Eltern nach Deutschland gezogen, als Russlanddeutscher Spätaussiedler. Ohne den Zwillingsbruder! Das ist, wie gesagt, amtlich bestätigt. Diese Tatsache legt nahe, dass auch alles Weitere der Wahrheit entspricht, was uns Andrej Kovalev im Verhör dargelegt hat, zumindest was den Lebenslauf seines Bruders betrifft.“
„Wir sind noch dabei, das über Europol und Interpol zu überprüfen“, ergänzte Schell.
Jung nickte. „Fahren Sie fort.“
„Okay. Zuerst noch zu den weiteren gesicherten Informationen: Die Familie wohnte zunächst in Berlin. Die Eltern leben nach wie vor dort. Andrej Kovalev machte nach dem Realschulabschluss in Stuttgart eine Ausbildung zum Koch, wurde von der Firma dort übernommen und machte sich, seinen Angaben nach, vor zwei Jahren mit einem Party-Service in Lauffen selbstständig. Er steht unter der Rubrik Catering im Branchentelefonbuch.
Zu seinem Bruder: Laut Andrej geriet sein Bruder Juri schon sehr früh, etwa mit dreizehn Jahren, auf die schiefe Bahn. Er beging Diebstähle, obwohl die Familie, ebenfalls laut Andrej, keine finanzielle Not hatte und auch sonst intakt war. Er saß Jugendstrafen wegen Einbruchs und Körperverletzung ab. Der Grund dafür, dass sich sein Bruder so entwickelte, war vermutlich sein früher Kontakt mit Drogen, die seine Persönlichkeit veränderten. Vielleicht hatte oder hat er infolge der Drogen auch eine Psychose, er wurde wohl einmal in die Psychiatrie eingewiesen. Mit sechszehn zog Juri Kovalev dann zu Hause aus. Zwei Jahre später zog der Rest der Familie, also Andrej und seine Eltern, nach Deutschland. Zu Juri hatten Andrej und seine Eltern, laut seiner Aussage, da bereits keinen Kontakt mehr. Nachdem er ausgezogen war, hatte die Familie wohl nur noch durch die Polizei ab und an von Juri gehört. Er war damals schon zeitweise untergetaucht und wurde öfter gesucht, natürlich auch bei den Eltern. So ...“
Strobe holte Luft, blätterte ein Blatt zurück und fuhr fort: „Yegor Kutschman ist vermutlich tatsächlich hier in der Gegend gewesen, so weit hat uns das Bundeskriminalamt eingeweiht. Deren Ermittlungen über eine Schleuserbande überschneiden sich teilweise mit den unseren zu einem Mordfall im Heilbronner Rotlichtmilieu. Es wäre also möglich gewesen, dass der Gesuchte unter dem Namen seines Bruders hier einen Wohnsitz gemeldet hat und von hier aus operiert. Deshalb habe ich mal die Orte und Zeiten der Straftaten, wegen derer Kutschman bei Europol gesucht wird, mit den Angaben, die Andrej Kovalev zu seinem eigenen Lebenslauf gemacht hat, verglichen. Ein Beispiel: Zu der Zeit, als Andrej die Ausbildung in Stuttgart machte, soll Kutschman laut BKA in der Ukraine junge Frauen zur Ausreise angeworben und nach Deutschland gelockt haben. Das mit der Ausbildung lässt sich schnell überprüfen. Deshalb, denke ich, können wir davon ausgehen, dass der, den wir gestern festgenommen haben, nicht der gesuchte Yegor Kutschman ist.“
Jung nickte und der Chef kreiselte ungeduldig mit der Hand, um Strobe damit aufzufordern, zügig weiter zu machen.
„Also, noch mal zu Juri Kovalev, alias Yegor Kutschman: Seit September diesen Jahres hat er sich in Deutschland aufgehalten. Er hatte Kontakt zu zwei Menschenhändlern, die letztes Jahr September in Gera verhaftet wurden. Die haben ihn auffliegen lassen. Er wurde aber bis jetzt nicht gefasst. Es ist also möglich, dass er sich noch in Deutschland aufhält, und dass Andrej Kovalev die Wahrheit gesagt hat, als er behauptet hat, sein Bruder habe ihn hier besucht. Er hat recht glaubwürdig geklungen, und ich denke sowieso nicht, dass sich der Mann bei uns in der Zelle mal kurz eine so komplexe Geschichte ausgedacht hat.“
„Lassen Sie uns das nachher beurteilen, Herr Strobe“, unterbrach ihn der Chef. „Was hat Andrej Kovalev weiter ausgesagt?“
„Gut. Ich habe ihm beim Verhör unterstellt, gemeinsam mit seinem Bruder den Mord begangen zu haben. Er hat das natürlich vehement abgestritten. Eine Marta Sausele kenne er nicht, allerdings habe er den Namen Sausele schon gehört.
Das gesamte außergewöhnliche Wiedersehen mit seinem Bruder soll sich folgendermaßen abgespielt haben: Er sagt, Juri habe am Montag, den siebten Elften, morgens plötzlich bei ihm vor der Tür gestanden. Also heute vor zwei Wochen. Er habe ihn einfach mal wieder sehen
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