Graue Schatten
Aber als ich nachgefragt habe, ob er etwas Konkretes geäußert habe, wie zum Beispiel, dass es besser wäre, jemanden von den Leiden zu erlösen, hat sie dichtgemacht. Ich hatte den Eindruck, sie wollte ihn nicht zu sehr belasten.
Jedenfalls, als sie letzten Montag vom Tod der Sausele erfahren und man sich in der Praxis darüber unterhalten habe, dass sie gar nicht todkrank gewesen sei, habe Bettina Richter befürchtet, dass noch mehr Patienten sterben könnten. So stellt sie es jedenfalls dar.
Es wäre aber natürlich auch möglich, dass sie doch von Andrej Kovalevs Bruder wusste, und Andrej wiederum von Juris kriminellen Machenschaften, falls Andrej nicht sowieso selber beteiligt war. Sie könnte davon Wind bekommen und Gewissensbisse gekriegt haben. Oder Angst, in etwas hineinzugeraten.“
Schell schaute nun Strobe an, wohl um ihm den Ball wieder zuzuspielen. Sicher aber auch, um ihn aufzufordern, dem Staatsanwalt mitzuteilen, dass sie Bettina gehen lassen hatten. Jetzt hat der Bub Schiss, die Verantwortung zu übernehmen, dachte Strobe. Auf die Theorie, bei der sowohl die Brüder Kovalev, als auch Bettina Richter eine Rolle spielen könnten, waren sie gestern erst im Auto auf der Heimfahrt von Lauffen nach Heilbronn gekommen. Da hatten sie die Arzthelferin aber schon heimgeschickt, was Strobe inzwischen aber auch gar nicht mehr so falsch fand.
„Wir haben Bettina Richter gehen lassen“, sagte er. „Es besteht bei ihr keine Fluchtgefahr, meiner Meinung nach. Und sie hat uns schließlich erst auf die Todesfälle aufmerksam gemacht.“
„Schon gut“, brummelte der Chef. „Es reicht, wenn Linde unschuldig in der Zelle sitzt.“ Er schaute provokant in die fragenden Gesichter und fügte hinzu: „Das wird uns zumindest nachher die Presse an den Kopf werfen.“
„Immer langsam“, schaltete sich Jung wieder ein. „Bisher war die Indizienlage gegen den Pfleger ja erdrückend. Und das ist sie immer noch. Eine Heimbewohnerin wird mit einem Kissen erstickt, und der Pfleger, der auf dem Stockwerk Nachtdienst hat, bekommt nichts mit. Ich bitte Sie, diese Tatsachen werden auch die neuen, zugegebenermaßen frappanten Erkenntnisse nicht entkräften. Egal wer alles an den Tötungen beteiligt war, die Wahrscheinlichkeit, dass Linde bei dem Mord an der Sausele involviert war, ist sehr hoch.
Aber Sie haben immer noch nicht erklärt, Herr Strobe, warum diese kurze Begegnung zwischen Herrn Sausele, Herrn Locke und dem Bruder des Kochs für Sie von so großer Bedeutung ist. Sofern sie nicht überhaupt nur der Fantasie Andrej Kovalevs entsprungen ist. Denn wenn ich das richtig verstanden habe, hat außer den Beteiligten und der Tante, die wieder in der Ukraine ist, niemand etwas davon mitbekommen. Überhaupt hat diesen Bruder wohl niemand hier gesehen, auch bei der Feier nicht. Liegt es nicht auf der Hand, dass Ihnen Andrej Kovalev da ein schönes Märchen aufgetischt hat, Herr Strobe?“
Der Chef schloss sich stumm nickend der rhetorischen Frage des Staatsanwalts an. Auch Schell blickte nur Strobe an. Der Hauptkommissar hatte das befürchtet. Er hatte nichts in der Hand. Aber dass Andrej gelogen haben sollte, machte für ihn überhaupt keinen Sinn. Der Koch hatte zweifellos Besuch von seinem Bruder, dem gesuchten Gewaltverbrecher Yegor Kutschman, gehabt!
„Welche Motive sollte Locke, beziehungsweise sollten die Brüder Kovalev für die vier Tötungen gehabt haben und wie soll sich das jeweils abgespielt haben?“, hakte Jung noch nach.
„Ich habe da verschiedene Theorien“, fing der Hauptkommissar an. Konkret hatte er zwei. Eine betraf nur den Mordfall Marta Sausele. Und sie war so brisant, dass er sie nicht einfach so vortragen, sondern die anderen sukzessive darauf stoßen wollte. Deshalb fing er mit der zweiten Hypothese an. Sie würde auch die anderen Tötungen erklären.
„Liebe, Eifersucht, Hass. Es könnte um Bettina Richter gegangen sein. Sie wollte Kevin Linde verlassen und zu Andrej Kovalev ziehen. Vielleicht hatte sie das schon vor letztem Sonntag vor und teilte das auch ihrem damaligen Freund mit. Aber Linde wollte sie nicht hergeben, hat seiner Freundin nachspioniert, dem Rivalen gedroht. Irgendwas in der Art. Ein Hasenfuß ist Linde schließlich nicht gerade. Oder die Richter konnte sich nicht entscheiden. Möglicherweise auch beides. Daraufhin wollte vielleicht Kovalev Linde einschüchtern, seine Macht demonstrieren. Da kam der skrupellose Bruder gerade recht. Er hat sicher Geld gebraucht und
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