Graue Schatten
Null Grad. Aber das war ja auch gut für die Abwehrkräfte. Ein bisschen Abhärtung schadete niemandem. Als Geschäftsmann konnte man sich keine Krankheit leisten.
Wotan zerrte schon wieder an der Leine. Das machte er heute öfter als sonst. Er hatte heute auch schon ein paar Mal geknurrt, seit sie im Wald waren. Das war etwas ungewöhnlich, konnte aber auch Zufall sein. Vielleicht lag es daran, dass er ihn etwas kürzer an der Laufleine hielt als gewöhnlich. Andererseits wusste man ja, dass Hunde oder Tiere allgemein so etwas wie einen siebten Sinn für Gefahren besaßen.
Sicher wurde er beobachtet. Der Kerl wollte ja bestimmt nicht den Moment verpassen, wenn er das Geld ablegte.
Oder ging es doch um mehr als um das Geld? Ging es nun um sein eigenes Leben? Wieder kamen Sausele Zweifel. Schließlich hatte er sich sozusagen mit dem Tod eingelassen.
Blöde Gefühlsduselei! Zusammenreißen! Manchmal musste man einfach die Emotionen ausschalten! Sich auf das konzentrieren, was getan werden musste. Er hatte ja sowieso keine Wahl. Oder?
Noch eine Wegbiegung, dann musste linker Hand die Abzweigung mit dem Holzschild zu sehen sein.
Dort war es. Er nahm seinen Hund noch etwas kürzer an die Leine. Der ließ sich das eigenartigerweise sogar gefallen. Beide, der Hund und auch Sausele, waren jetzt ganz ruhig. Wenn der Ukrainer in der Nähe wäre oder sich nähern würde, dann würde Wotan ihn sofort wittern und anschlagen, also kein Grund zur Panik.
Sie waren an der Gabelung angelangt. Da stand das Schild mit dem eingeschnitzten Pfeil und dem Wort Wanderhütte.
Es war sehr still hier. Sausele und Wotan waren allein mitten in einem Wald, der augenblicklich so groß und einsam schien wie die russische Taiga. Zu so früher Stunde war außer ihm und dem gefährlichen Typen vermutlich im Winter keine Menschenseele in dieser Verlassenheit unterwegs.
Der Geschäftsmann war nun angespannt, aber konzentriert. Er schaute sich einmal nach allen Seiten um, holte das in Plastikfolie verpackte Bündel aus der Innentasche seiner Jacke, legte es hinter dem Holzpfahl des Schildes ab und bedeckte es mit nassem Laub. Wotan zuckte kurz, die Leine spannte sich. Sausele richtete sich auf, schaute sich erneut um.
Nichts passierte. Niemand war zu sehen. Nur der Wind rauschte leise in den Baumkronen und noch leiser der Verkehr auf der fernen Straße.
„Komm, Wotan!“, zischte er energisch. Er wollte nun schnell weg von hier. Weiter die gewohnte Runde, vorbei am verhängnisvollen Wanderparkplatz und von da aus parallel der Straße entlang zurück nach Lauffen.
Doch kaum waren sie um die nächste Ecke, fing der Hund wieder an zu ziehen und zu knurren. Irgendetwas war im Busch, im wahrsten Sinne des Wortes. Plötzlich bellte er kurz, aber drohend.
„Ruhig!“, fauchte Sausele ihn an und zog dabei ruckartig an der Leine. Eine Erziehungsmaßnahme, die der Tierfreund sonst ablehnte. Aber gewöhnlich war das bei Wotan auch nicht nötig.
Doch es half. Der Hund verhielt sich jetzt ruhig. Gleich darauf aber zog er wieder an der Leine, nach vorn, in Richtung Hauptstraße.
Nach ein paar Schritten hörte Sausele so etwas wie ... Stimmen.
„Wotan, Fuß!“, befahl er instinktiv mit gedämpfter Stimme. Der Hund gehorchte.
„Sitz!“ Wotan setzte sich. Sausele blieb stehen, hielt ihn am Halsband fest und streichelte ihn ein wenig am Kopf. Dann lauschte er. Eindeutig Stimmen. Irgendwie ungewöhnlich! Oder war er jetzt doch etwas zu misstrauisch?
Aber er vernahm noch etwas! Es knackte hinter den Bäumen. Nicht das Knacken, das Äste erzeugten, wenn man auf sie trat und sie dabei zerbrach. Nein, das war etwas anderes! Als er das Geräusch erkannte, lief ihm ein kalter Schauer den Nacken herunter.
Da wieder! Sausele erstarrte. Das konnte nicht sein! Oder doch? Aber es muss nichts mit mir zu tun haben, versuchte er sich einzureden, und damit die aufkommende Panik niederzukämpfen.
Das Geräusch kam aus Richtung Wanderparkplatz. Der war noch fast zehn Gehminuten entfernt, aber die Stimmen, die hatte er aus der Nähe gehört. Und das Knacken auch! Wie es schien, lief jemand von der Straße aus auf ihn zu! Er stand einen Moment ganz still und versuchte durch die Bäume hindurch zu erkennen, ob sich hinter der nächsten Wegbiegung etwas bewegte. Nichts.
Aber es knackte wieder.
„Verdammte Scheiße!“, zischte er verzweifelt, ohne sich erklären zu können oder wirklich begreifen zu wollen, was die Situation bedeutete. Instinktiv drehte er sich um
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