Graue Schatten
ihm die Blätter hinüber. Sie enthielten einen kurzen Bericht mit Informationen und Erkenntnissen im Zusammenhang mit dem Sonnenweiß-Stift. Angefangen vom gestrigen anonymen Anruf, der im Wortlaut beigefügt war, über den Besuch der Polizei beim Heimleiter, bis zum Auffinden der Leiche von Frieda Müller. Schell wusste nun in etwa genauso viel wie sein älterer Kollege, er fasste das Gelesene trotzdem noch einmal laut zusammen:
„Es gibt also eine Unbekannte, die behauptet, im Pflegeheim Albert-Sonnenweiß-Stift wären innerhalb von zwei Wochen drei Leute auf unnatürliche Weise gestorben. Die Person macht sich Sorgen um die Sicherheit der Heimbewohner und verdächtigt indirekt das Pflegepersonal oder eine bestimmte, aber nicht benannte Pflegeperson. Der Dorfsheriff hat sich mit dem Heimleiter unterhalten und einen Blick in die Akten der letzten Todesfälle geworfen. Er hat festgestellt, dass, obwohl auf zwei der Totenscheine nichtnatürliche Ursache angekreuzt war, alles in Ordnung sei. Das waren halt Unfälle. Und heute gibt es in genau diesem Pflegeheim eine Leiche – unnatürliche Todesursache und Fremdeinwirkung.“
„Wo steht das mit der Fremdeinwirkung?“, wollte Strobe wissen.
„Nirgends. Aber sonst müssten wir wohl nicht dorthin fahren?“
„Ich weiß auch nicht mehr als das, was in dem Fax steht. Außer, dass die Leiche obduziert wird.“
„Und die anderen beiden Unfälle? Werden die nicht aufgeschnitten?“
„So schnell geht das nicht.“
„Wieso? Nichtnatürliche Todesursache, müssten die nicht schon längst obduziert sein?“
„Ach Bub ...“, seufzte Strobe, was heißen sollte: Du musst noch viel lernen. Er erklärte: „Eine Obduktion kostet fünfhundert Euro und die Rechtsmedizin ist mehr als ausgelastet. Der Staatsanwalt wird nicht wegen jeder Großmutter eingeschaltet, die die Treppe runtergestürzt ist und sich das Genick gebrochen hat.“
„Aha“, murmelte Schell nachdenklich.
„Hast du die Internetseite noch offen?“, fragte Strobe, zeigte auf den Computermonitor und lief um die Schreibtische herum, als Schell mit abwesender Miene nickte.
Während Strobe sich durch die Internetpräsentation klickte, murmelte Schell plötzlich: „Der lockere Umgang mit solchen Todesfällen hat ja vor ein paar Monaten mindestens dreißig Patienten in Sonthofen das Leben gekostet, oder?“
„Jetzt fängt der auch noch damit an.“ Strobe wandte sich vom Bildschirm ab.
„Ach, hat der Chef das Gleiche gesagt?“
„Nein, hat er nicht. Aber seit diesem Jahrhundertserienmord sind einige leitende Kriminalbeamte ein bisschen nervös. Der Chef will nur, dass wir das Heim ein wenig unter die Lupe nehmen, vor allem das Personal. Also werden wir uns mit den Leuten unterhalten, noch einmal in die Akten gucken, klären, ob es noch mehr Todesfälle mit nichtnatürlicher Ursache gegeben hat, und feststellen, ob ein Anfangsverdacht berechtigt ist.“
„Und einen Gutachter einschalten?“
„Wenn wir einen Anfangsverdacht haben, werden wir ein paar Krankenakten für den Gutachter mitnehmen. Aber erst mal müssen wir die Vorarbeit leisten. Wir machen jetzt einen Ausflug ins schöne Lauffen am Neckar. Dort kannst du von deinen Schultheorien in Gesprächsführung Gebrauch machen.“
Er warf sich seinen Schal um den Hals, nahm seinen Agentenhut und den Mantel vom Garderobenständer und ermunterte Schell mit den Worten „Auf geht's!“ zum Aufstehen.
„Soll ich die Website ausdrucken?“, fragte Schell.
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
Als Strobe den dunkelblauen Dreier BMW in die Oststraße steuerte, begann Schell: „Wann war das in Sonthofen? Im Sommer? Im Juli, glaube ich, ist der Pfleger aufgeflogen.“
„Jetzt bleib mal ruhig, so schlimm wird es nicht“, entgegnete Strobe.
„Die Tötungen hatten sich ja über eineinhalb Jahre erstreckt, wenn ich mich recht entsinne“, redete Schell weiter, ohne auf die Floskel Strobes einzugehen. „Solange sind die Morde unentdeckt geblieben. Zweiundvierzig Leichen wurden exhumiert.“
„Ich hab dir schon mal gesagt, so was passiert einmal in hundert Jahren. So eine Tötungsserie hat es vorher noch nicht gegeben, zumindest nicht bei uns in Deutschland. Und wir beide werden einen Fall in diesem Ausmaß in unserem Arbeitsleben auch nicht auf den Tisch kriegen. Glaub mir das einfach mal.“
Strobe musste an einer Ampelkreuzung halten und überlegte kurz, ob er nicht das Blaulicht einschalten sollte. Doch wozu Hektik verbreiten? So konnte
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