Graue Schatten
man in Ruhe nachdenken. Mehr als zwanzig Minuten brauchte man ohnehin nicht bis nach Lauffen. Fünf Minuten hin oder her würden auch keinen neuen Mord verhindern und die verunglückte Frau auch nicht mehr lebendig machen. Außerdem hatte er es gerne, wenn die Kriminaltechniker schon ein bisschen vorgearbeitet hatten und die eine oder andere Frage beantworten konnten.
„Ich kenne übrigens das Sonnenweiß-Stift“, sagte er unvermittelt.
Schell schaute ihn überrascht an.
„Ich hatte eine Tante, die hat dort ihre letzten Lebensjahre verbracht. Das ist aber schon ... ich weiß nicht wie lange her. Hab sie ein paarmal besucht. Jedenfalls kenne ich die Gegend. Das Heim steht auf einem Hügel. Und der fällt nach Norden hin ziemlich steil ab. Da gibt es richtige Felswände. Wenn da ein verwirrter Heimbewohner ausreißt und ein Stück in den Wald läuft, kann es für ihn richtig gefährlich werden. Es ist gut möglich, dass die Omi ausgerutscht und so eine Wand runter gestürzt ist.“
Er lenkte den BMW nun auf die B27. Zwei Minuten später hatten sie das Ortsausgangsschild der Kreisstadt passiert.
„Lauffen am Neckar kennst du doch, oder?“, fragte er den erst im Frühjahr aus München zugezogenen Schell.
„Wer kennt Lauffen nicht!“, kokettierte der. „Liegt in landschaftlich reizvoller Lage am Neckar, hat elftausendeinhundert und paar zerquetschte Einwohner, seit zwölfhundertvierunddreißig die Stadtrechte und ist die Geburtsstadt von Hölderlin.“
„Gut aufgesagt. Hast du vorhin im Internet gelesen?“, mutmaßte Strobe.
„Korrekt.“
Sie fuhren eine Weile schweigend durch die triste Novemberlandschaft. Rechter Hand waren grau die Hügel des Stromberggebietes, links am Horizont die Silhouette der Löwensteiner Berge zu sehen.
Gott sei Dank ist um die Mittagszeit nicht so viel los auf der Straße, dachte Strobe gerade, als Schell plötzlich wieder anfing: „Dieser Pfleger in Sonthofen ist ja eigentlich nur durch den Medikamentendiebstahl aufgeflogen. Durch Zufall, kann man sagen.“
„Damit willst du ausdrücken, dass ohne diesen Zufall dreißig Tötungen für immer unentdeckt geblieben wären und dass unzählige solcher Fälle überhaupt nie aufgedeckt werden. Richtig?“
„Richtig. Die Dunkelziffer bei Patiententötungen ist sehr hoch, das sagen die Kriminologen.“
„Das will ich auch gar nicht bestreiten. Trotzdem, halt dich zurück mit voreiligen Schlüssen, vor allem nachher, wenn wir das Personal befragen. So ein Pflegeheim ist ein sensibler Bereich. Wir sind jetzt nicht mehr im Rotlichtmilieu. Und wir verhören jetzt keine harten Jungs, die früher oder später sowieso wieder sitzen.“
„Danke Chef. Ich dachte wirklich Sonnenweiß-Stift sei der Deckname für Rote Meile.“
„Ich will nur, dass dir klar ist, dass wir noch nicht mal einen Anfangsverdacht haben. Wir gehen der Sache nach, das ist unsere Pflicht, machen uns ein Bild von dem Heim, vom Personal, und werden uns ein bisschen intensiver mit dem Heimleiter oder dem Personalchef unterhalten. Wenn wir Glück haben, kommt am Ende heraus, dass der anonyme Anruf heiße Luft war, und dass die verwirrte alte Frau heute ohne fremdes Zutun zu Tode gekommen ist.“
„Du meinst, der anonyme Anruf war völlig aus der Luft gegriffen? Warum sollte jemand bei der Polizei anrufen und so etwas behaupten?“ Schell schaute auf die Blätter des Faxes, die er noch immer in der Hand hielt.
„... im Sonnenweiß-Stift sind in wenigen Wochen mehrere Patienten gestorben, die noch nicht so weit waren“, zitierte er aus dem abgedruckten Wortlaut des Anrufs. „... die Bewohner sind in Gefahr ... Ärzte sind anscheinend nicht fähig, die wirkliche Todesursache festzustellen ... und es gibt dort jemanden, dem sollte man keine hilflosen Patienten anvertrauen ...“
„Ich habe ‚heiße Luft‘ gesagt, nicht, ‚aus der Luft gegriffen‘“, korrigierte ihn Strobe. „Außerdem wird wesentlich mehr verleumdet und verunglimpft, als gemordet. Gründe dafür finden die Leute immer.“
„Zum Beispiel eine Pflegekraft, die rausgeflogen ist?“
„Wäre eine Möglichkeit. Oder die hysterische Angehörige eines Heimbewohners. Oder was Privates ...“
„Es wäre schon interessant, zu wissen, wer die Anruferin war“, dachte Schell wieder laut.
Das Stadtgebiet von Lauffen hatten sie auf der B27 in drei Minuten durchquert. Hinter dem Ortsausgangsschild ging es nun wieder bergauf. Kurz vor der Kuppe bogen sie rechts zum Sonnenweiß-Stift ab. Jetzt, im
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